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Steffen Mau: »Spaltungsdiagnosen hat es schon immer gegeben«
Der Soziologe Steffen Mau im Interview zum Buch »Triggerpunkte« und die Reizthemen gesellschaftlicher Polarisierung
Herr Mau, in der Einleitung zu Ihrem neuen Buch verwenden Sie und Ihre beiden Autorenkollegen Thomas Lux und Linus Westheuser zwei gegensätzliche Begriffe, die den Grad der gesellschaftlichen Spaltung charakterisieren sollen: »Kamelgesellschaft« und »Dromedargesellschaft«. Was sagt uns dieser Tiervergleich?
Wir haben uns da vom Rücken der Tiere inspirieren lassen. Beim Kamel haben wir zwei Höcker, dazwischen ist ein großer Graben. Hier stehen sich zwei gesellschaftliche Großgruppen gegenüber, die Differenzen erscheinen unüberbrückbar. Beim Dromedar gibt es einen großen Hügel, die Ränder laufen aus und sind deutlich kleiner.
Und welche Beschreibung passt besser auf Deutschland?
Bislang eher das Dromedar. Denn eine fundamentale Spaltung oder ein Riss durch die Mitte der Gesellschaft lässt sich nicht finden.
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Aus historischer Perspektive kritisieren Sie die ständigen »Spaltungsdiagnosen«. Diese tauchen in der Geschichte immer wieder auf, sind also keineswegs ein neues Phänomen.
Das stimmt, solche Diagnosen hat es schon immer gegeben. Schon Karl Marx ist ja von einem grundsätzlichen Klassenkonflikt ausgegangen, der sich über die Zeit verschärfen sollte. In Wirklichkeit hat sich die Gesellschaft aber immer stärker ausdifferenziert, und dabei sogar manche Spaltung befriedet.
Sie verweisen auf Staaten mit Zwei-Parteien-Systemen wie Großbritannien und vor allem auf die USA, wo sich spätestens seit der Präsidentschaft Donald Trumps zwei verfeindete Milieus gegenüberstehen. Die Anhängerschaft der Republikaner und die der Demokraten reden kaum noch miteinander, nutzen die jeweils eigenen Kommunikationskanäle. Begünstigt das Mehrheitswahlrecht Polarisierungen, passt es nicht mehr zur heutigen Vielfalt von Gesellschaften?
Ja, denn anders als beim Verhältniswahlrecht, das wir bei uns haben, erhält beim Mehrheitswahlrecht immer die Person mit den meisten Stimmen das Mandat. Koalitionsregierungen sind hier eher unüblich, damit dominieren stets wenige große Parteien. Kompromissbildungen sind weniger nötig, weil diese allein regieren können. Der Kampf zwischen den Kontrahenten wird deshalb härter geführt, die Entfremdung der Wählermilieus wird wahrscheinlicher.
Ist die traditionelle Aufteilung in ein rechtes und ein linkes politisches Lager aus Ihrer Sicht noch zeitgemäß?
Nur noch bedingt. Natürlich strukturiert diese Unterscheidung auch heute noch den politischen Raum, aber der Grundkonflikt ist weniger dominant. Es sind neue Konflikte hinzugetreten, Themen wie Migration, Klimawandel oder sexuelle Diversität machen die Lage komplizierter. Wir sehen in den politikwissenschaftlichen Analysen, dass es im Vergleich zu früheren Urnengängen mehr Wählerwanderung beispielsweise zwischen der SPD, den Grünen und der CDU/CSU gibt, sich also die Fronten etwas aufgeweicht haben. Neu ist in Deutschland aber der Aufstieg einer rechtspopulistischen und in Teilen rechtsradikalen Partei, der AfD. Dadurch sind neue Reibeflächen in der politischen Auseinandersetzung entstanden.
Eine These des Autorenteams lautet, hierzulande gebe es eine vergleichsweise geringe »affektive Polarisierung«. Ist die gesellschaftliche Spaltung Ihrer Ansicht nach nur herbeigeredet?
Es gibt eine »Spaltung in den Köpfen« oder eine »gefühlte Polarisierung«, die das tatsächliche Auseinanderdriften der Gesellschaft überbetont. Die Menschen sind bei vielen Themen näher beieinander und weniger kompromisslos als man angesichts der öffentlichen Debatten meinen könnte. Statt einer Spaltung in der Mitte haben wir eine Radikalisierung des Randes.
Im empirischen Teil Ihres Buches untersuchen Sie ausführlich vier zentrale »Konfliktarenen der Ungleichheit«. Um welche Themen geht es dabei?
Wir nennen eine dieser Arenen Oben-Unten-Konflikt, in dieser geht es um klassische ökonomische Ungleichheit und um Verteilungsfragen. Bei den Innen-Außen-Konflikten geht es um Migration, bei der Wir-Sie-Arena um Diversität und Diskriminierung und bei der Heute-Morgen-Arena um die Klimafrage. Die drei zuletzt genannten Themen sind relativ neue Konflikte, die viel Bewegung in die Gesellschaft hineinbringen.
Und was genau »triggert« dabei?
Wir beobachten einerseits viel Konsens, aber auch erhitzte Gemüter, wenn bestimmte Reizthemen angesprochen werden, etwa das Gendern in der Sprache, im Straßenverkehr die Lastenfahrräder oder auf der anderen Seite Geländewagen wie die SUVs. Verletzungen von Gleichheitsvorstellungen, Gefühle von Kontrollverlust und Veränderungszumutungen sind typische Trigger, die Menschen erregen oder wütend machen. Das führt dann zu besonders emotionalisierten Diskussionen, die sich nicht so schnell einfangen lassen.
In Ihrer »Taxonomie«, die Sie und Ihre Kollegen im zweiten Teil des Buches entwickeln, fällt auf, dass Sie sich auf die Themen soziale Gegensätze, Zuwanderung, Identitätspolitik und Klimaschutz konzentrieren. Andere sehr umstrittene Politikfelder aus jüngster Zeit wie die Coronakrise und den Ukraine-Krieg sparen Sie dagegen aus. Liegt das an den zu früh erhobenen empirischen Daten oder welche anderen Gründe gibt es dafür?
Unser Fokus sind langfristig angelegte Ungleichheitskonflikte, nicht einzelne Krisen, deshalb haben wir die außen vorgelassen. Dazu gibt es aber natürlich auch Forschung, die wir, wenn es sinnvoll erschien, berücksichtigt haben.
Haben die politischen Tableaus, die Sie auf dieser Grundlage aufstellen – mit den Grünen stets ganz oben auf der progressiven Skala, mit der AfD weit unten als negativer Seite der Medaille –, angesichts der aktuellen Konfliktlinien noch Bestand? Auch viele Linke sind ja gegen Waffenlieferungen, und vor allem Liberale haderten mit der Einschränkung der Freiheitsrechte während der Pandemie.
Ja, diese Umordnungen politischer Konfliktfelder gibt es, es bilden sich derzeit auch neue Allianzen. In den von uns untersuchten Konfliktfeldern wie Migration, Klima und Diversität ist das jedoch weniger erkennbar. Durch das Bespielen von Triggerpunkten, also der gesellschaftlichen Reizzonen, können sich aber auch hier die gesellschaftlichen Verhältnisse schnell ändern. So sind relativ viele Menschen grundsätzlich für mehr Klimaschutz, den spektakulären Klebe- oder Sprühaktionen der »Letzten Generation« stehen sie aber kritisch bis feindlich gegenüber. Wenn Aktivist*innen vornehmlich solche Gefühle bewirtschaften, kann sich die politische Sitzordnung verändern.
Was müsste aus Ihrer Sicht geschehen, damit sich Menschen weniger »getriggert« fühlen?
Bei machen Themen braucht man Geduld. Die gleichgeschlechtliche Ehe zum Beispiel war einst ein großes Triggerthema für viele Konservative, spätestens seit ihrer Verabschiedung im Bundestag ist ihre Akzeptanz ein breit geteilter Konsens. Wichtig ist auch der Umgang der Medien mit den besonders umstrittenen Reizthemen. Man muss nicht über jedes Stöckchen springen und jeden Randaspekt groß machen. Konflikte sind nicht einfach nur da, sie werden inszeniert und getriggert. Da sind wir gut beraten, auch mal gelassen zu reagieren.
Steffen Mau, geboren 1968, ist Professor für Makrosoziologie an der Berliner Humboldt-Universität. Seit 2021 gehört er dem Sachverständigenrat der Bundesregierung für Integration und Migration an. Vor der aktuellen Veröffentlichung schrieb er das Buch »Lütten Klein«, eine von persönlichen Erfahrungen inspirierte Sozialgeschichte über das Plattenbauviertel in Rostock, in dem der Autor aufgewachsen ist. In unmittelbarer Nähe liegt der Ortsteil Lichtenhagen, der Anfang der 90er Jahre durch gewalttätige Angriffe auf Asylbewerber und Vertragsarbeiter traurige Berühmtheit erlangte.
Steffen Mau/Thomas Lux/Linus Westheuser: Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Suhrkamp, 540 S., br., 25 €.
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