- Kultur
- Frankfurter Buchmesse
Erinnerungskultur von Spanien: Vergessen ist keine Option
Walther L. Bernecker über Deutungskämpfe in der Erinnerungskultur von Spanien
Ihr könnt Männer, Frauen und Kinder töten, wie meins, das noch nicht geboren ist, aber was ist mit den Ideen? Mit welchen Kugeln wollt Ihr die Ideen töten?» Diese Worte richtete die junge 1912 geborene mallorquinische Kommunistin Aurora Picornell an die Falangisten, die sie im Januar 1937 ermordeten. Als nach jahrzehntelangem Suchen im Oktober 2022 ihre sterblichen Überreste gefunden wurden, war die Aufregung auf Mallorca groß, denn ihre «Heimkehr» war ein Höhepunkt in der von den demokratischen und linken Kräften angestrebten «Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses», einer Bewegung, die nicht nur die Opfer der Franco-Diktatur rehabilitieren, sondern auch den Franquismus als menschenfeindliche und verbrecherische Ideologie aus der spanischen Gesellschaft verbannen will.
Auroras Bild hängt heute überlebensgroß und zentral im Aufgang des Regierungsgebäudes der Balearen. In den Zeiten, als der konservative Partido Popular (PP) die Regierung stellte, stieß das auf Widerstände, die Regierung blockierte derartige Initiativen. Aber auf Mallorca, das von wechselnden Linksbündnissen regiert wurde, war trotzdem mit der Exhumierung und Identifizierung der Opfer begonnen worden, die allein für die Jahre 1936 und 1937 auf mehr als 3000 geschätzt werden. Für Aurora Picornell, schon 2019 zur «Ehrenbürgerin von Mallorca» ernannt, wurde in Es Molinar, dem ehemaligen Arbeiterviertel von Palma, in dem sie gelebt hatte, ein Denkmal errichtet, an dem es in jedem Jahr an ihrem Todestag eine Gedenkstunde gibt. Aber das Denkmal wurde auch schon mit Farbe übergossen, mit der blauen Farbe der Falange. Mit dem auch in Spanien stattgefundenen Rechtsruck besteht die Gefahr, dass sich ähnliche Anschläge wiederholen können.
Die Geschichte der Aufarbeitung der Franco-Diktatur und des Franquismus ist kompliziert und vielschichtig und musste mit vielen Gegenaktionen und Rückschlägen fertig werden. Walther L. Bernecker, in Deutschland der wohl beste Kenner der spanischen Geschichte, vor allem der der Neuzeit, hat über den Umgang mit dem Franquismus nach dem Tod des Diktators ein schmales, aber inhaltsschweres und ausgesprochen informatives Buch geschrieben. Bernecker beginnt mit einer Kritik an der «transición», dem Übergang von der Diktatur zur Demokratie, der auf einem Kompromiss beruhte, mit dem versucht wurde, Opfer und Täter «auszusöhnen». Das bedeutete unter anderem, dass kein Elitenaustausch stattfand und zum Beispiel die Justiz der Vergangenheit die Justiz der Gegenwart blieb. Ein weiteres Hindernis bildete das für das demokratische Recht charakteristische Rückwirkungsverbot, das erst ins Wanken geriet, als der Richter Baltasar Garzón die Universalität der Menschenrechte über das positive Recht setzte. Garzón allerdings wurde durch konservative Intrigen aus dem Amt gejagt.
Erst während sozialistischer Regierungen kam wieder Bewegung in die Aufarbeitung, franquistische Symbole (zum Beispiel Straßennamen) wurden gelöscht, vom Staat finanzierte Exhumierungen und mit Gentechnik betriebene Identifikationen eingeführt, und die größte franquistische Gedenkstätte, das 1940 von Zwangsarbeitern errichtete «Valle de los Caidos» (Tal der Gefallenen), wurde umgewidmet und die Überreste von Francisco Franco und dem Falange-Gründer Primo de Rivera wurden entfernt. Aber es bleibt noch viel zu tun: Angenommen wird, dass 150 000 republikanische Spanier ermordet wurden und sich noch 100 000 in anonymen Gräbern befinden. Bisher wurden 11 000 exhumiert. Bis 2020 hat Spanien 21,7 Milliarden Euro für Wiedergutmachungen usw. ausgegeben. Aber in den meisten Fällen noch unbekannt ist das Schicksal der circa 30 000 «gestohlenen Kinder».
Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.
Apropos, in dem 2022 angenommenen Aufarbeitungsgesetz wird nicht mehr vom «Bürgerkrieg» gesprochen wird, sondern von der «Guerra de España», dem «Spanischen Krieg». Damit wird dieser in einen internationalen Kontext gestellt, als Vorstufe zum Zweiten Weltkrieg. Dadurch wird es auch möglich, die franquistischen Verbrechen nach internationalem Recht zu verurteilen.
Walther L. Bernecker: Geschichte und Erinnerungskultur. Spaniens anhaltender Deutungskampf um Vergangenheit und Gegenwart. Verlag Graswurzelrevolution, 84 S., br., 10,90 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.