Vietnam: Vom Trümmerfeld zur Boomtown

In Vietnam sprießen 50 Jahre nach dem Abzug der USA in den Kriegsgebieten Start-ups aus dem Boden

  • Felix Lill
  • Lesedauer: 7 Min.
Jeder Balkon beherbergt ein Start-up: Ho-Chi-Minh-Stadt ist eine der führenden Boomtowns in Vietnam.
Jeder Balkon beherbergt ein Start-up: Ho-Chi-Minh-Stadt ist eine der führenden Boomtowns in Vietnam.

»Dass dieses Konzept funktioniert, war uns klar«, prahlt Pham Thi Ngoc Anh und deutet in ihr Café. Auf ockerfarbenen Fliesen stehen um helle Tische herum Stühle aus Wiener Geflecht, von der weißen Decke hängen Lampen in skandinavischem Design. Die internationale und junge Kundschaft macht Selfies, während sie Single Origin Coffee trinkt, Matcha Latte oder Eiskaffee, nach vietnamesischer Art mit Kondensmilch. Die Getränke werden zu Berliner Preisen angeboten, nachgefragt werden sie trotzdem. »Die jungen Leute von heute lieben Qualitätsprodukte!«, erklärt die Unternehmerin.

Pham Thi Ngoc Anh ist Gründerin von »Anh«, einem hippen Café im Zentrum von Ho Chi Minh City. Sieben Jahre sind vergangen, seit sie und ihr Ehemann das erste von mittlerweile drei durchgestylten Cafés in Vietnams größter Stadt eröffnet haben. »Im Oktober starten wir in Frankreich«, strahlt Anh. »Und wenn es da ähnlich gut läuft, gehen wir auch nach Deutschland.« Denn heutzutage sei doch bekannt, dass Vietnam reichlich hochwertige Bohnen produziere und über eine vielfältige Kaffeekultur verfüge. »Wir wollen der Welt zeigen, was wir haben!«

Was für die 41-jährige Pham Thi Ngoc Anh selbstverständlich klingt, mutete für die Generation ihrer Mutter lange Zeit unwirklich an. »Meine Eltern haben mir beigebracht, an Luxus gar nicht zu denken, sondern sparsam zu sein. Es mangelte ja an fast allem.« Heute aber komme auch die Mutter der Unternehmerin regelmäßig ins »Anh«, lade Bilder von sich und ihren Freundinnen auf Instagram hoch. »Die Zeiten haben sich geändert«, sagt die stolze Tochter. »Wir Vietnamesinnen von heute müssen uns nicht mehr vor Bombenangriffen wegducken.« Stattdessen trinkt man teuren Kaffee.

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Es ist nicht allzu lang her, da hätte kaum jemand darauf gewettet, dass eine in Vietnam gegründete Café-Kette jemals auf europäische Märkte expandieren würde. Vor 50 Jahren war das südostasiatische Land, in dem heute an die 100 Millionen Menschen leben, einer der ärmsten Flecken des Planeten. Gemeinsam mit der Ex-Kolonialmacht Frankreich hatten die USA ab 1955 einen unerbittlichen Kampf gegen den im Land florierenden Kommunismus geführt: Um die drei Millionen Menschen kamen um, zwei Millionen wurden versehrt, weitere zwei Millionen erkrankten an abgeworfenen Chemikalien.

Vor allem die USA machten sich schwerer Verbrechen schuldig. Durch das Entlaubungsmittel Agent Orange, mit dem sich die Air Force ihre Angriffe erleichtern wollte, wurden Generationen mit Krankheiten belastet. Dennoch erzwang der Kampfeswille der Vietnamesen, die ihrem Anführer Ho Chi Minh unermüdlich folgten, 1973 den Abzug der USA. US-Präsident Richard Nixon erklärte seinem kriegsmüden Land: »Ich spreche zu Ihnen, um Ihnen mitzuteilen, dass wir beschlossen haben, den Krieg zu beenden und Frieden in Ehren nach Vietnam und Südostasien zu bringen.«

Die ökonomische Entwicklung, die Vietnam seitdem hingelegt hat, ist atemberaubend. Im Jahr 1973, als das US-Militär seinen Rückzug begann, lag das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf bei 75 US-Dollar im Jahr. Für 2021 hat die Datenbank der Vereinten Nationen einen Wert von 3756 Dollar im Schnitt pro Kopf im Jahr notiert. In Sachen jährlicher Wirtschaftsleistung pro Kopf hat Vietnam gerade die benachbarten Philippinen überholt – deren Pro-Kopf-BIP 2003 noch mehr als doppelt so hoch lag wie jenes Vietnams. Dabei gehören die Philippinen seit Jahren zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften Südostasiens. Aber Vietnam boomt geradezu. Dabei litt in den ersten Jahren nach dem US-Rückzug, auf den kurze Zeit später der endgültige Sieg der Kommunisten im Land folgte, noch ein Großteil der Bevölkerung Hunger.

Die Wende kam 1986, als die Regierung im Geiste des sowjetischen Staatsratspräsidenten Michail Gorbatschow liberalisierende Reformen beschloss. Unter dem Schlagwort »Doi Moi« (Erneuerung) wurde das Verbot des Privatbesitzes an Produktionsmitteln aufgehoben, Landwirte konnten fortan ihre eigene Fruchtfolge planen, Unternehmerinnen Ideen verwirklichen. Das schien schnell zu passen. »Ich kenne keine Gesellschaft, in der die Menschen so unternehmerisch denken wie in Vietnam«, sagt Thierry Palasse. Der 55-jährige Franzose erlebt es jeden Tag. An einem sonnigen Nachmittag sitzt er vor einem Lokal in Ho Chi Minh City und trinkt einen Avocadoshake, während ihm alle paar Minuten ein neuer Straßenverkäufer etwas anbietet: Sonnenbrillen, bunte Fächer, Schuheputzen, frisches Gemüse. »Aber das Unglaubliche sind die ganzen Start-ups«, so Palasse. »Vor 15 Jahren passierte hier alles mit Bargeld und niemand konnte größere Scheine wechseln.« Heute haben lokale Fintech-Dienstleister übernommen. »Man zahlt seine Stromrechnung nicht per Überweisung, sondern im Supermarkt. Oder man macht es gleich übers Smartphone. Eine Kreditkarte braucht hier niemand.«

Thierry Palasse hat die bisher wohl dynamischsten Wachstumsjahre hautnah miterlebt. 2007 zog der Designer von der Karibik nach Vietnam, entwarf hier T-Shirts mit Aufdrucken und Sprüchen, die sich an Touristen richteten. Palasse verdiente auch deshalb gutes Geld, weil gerade in jenen Jahren ein Tourismusboom begann. Zu jenen Designs, die sich über die vergangenen Jahre gut verkauft haben, gehört eines mit der Aufschrift: »Ho Chi Minh City Start-up-Republic«. »Das ist kein Zufall«, glaubt Thierry Palasse. »Unter jüngeren Erwachsenen von heute herrscht Aufbruchstimmung.« Die jüngsten Daten des Analyseinstituts Global Entrepreneurship Monitor bestätigen das. So führen 25 Prozent der 18- bis 64-Jährigen heute einen Betrieb – knapp dreimal so viel wie der internationale Durchschnitt. Und mehr als im globalen Durchschnitt denken Entrepreneure in Vietnam demnach innovationsorientiert.

Eine Demokratie ist Vietnam bis heute nicht. Neben der Kommunistischen Partei (KP) ist keine weitere politische Kraft offiziell zugelassen. In »Umerziehungslagern« wurden die Gegner der Kommunisten während der Jahre nach Kriegsende auf Linie gebracht – oder in die Flucht getrieben. Mehr als eine Million Menschen verließ ab 1975 das Land, Zehntausende kamen nach Deutschland, kleinere Zahlen nach Österreich. In Vietnam ist dieses Thema heute weitgehend tabu. Ein ebenfalls schwieriges Thema ist die Beziehung, die die »Sozialistische Republik Vietnam«, wie der Staat seit 1976 heißt, ab 1980 mit der DDR hatte. Nach vorigem Austausch auf Studierendenebene schickte Vietnam ab 1980 um die 70 000 Vertragsarbeiter in die DDR, die im Krieg gegen die USA die Kommunisten unterstützt hatte und nun Arbeitskräfte benötigte. Mit ihren Einkommen finanzierten die Vietnamesen dann auch den Aufbau ihres Heimatlandes. Dort aber finden Debatten über eine mögliche Ausbeutung der Arbeiter kaum statt. Medien und Internet sind staatlich kontrolliert.

Solange man sich bei politischen Themen raushält, ist man in Vietnam heute recht frei. Zu den schillerndsten Erfolgsbeispielen ökonomischer Freiheit gehört das Konglomerat Vingroup aus der Hauptstadt Hanoi, deren Gründer Pham Nhat Vuong als reichster Mann des Landes gilt. Unter dem Namen Vinpearl betreibt er Resorts, Vincom ist im Bausektor aktiv, Vinmart verantwortet Supermärkte, Vinfast baut Elektroautos und Vinuni sowie Vinschool engagieren sich im florierenden Bildungssektor. Die Liste ließe sich fortführen. Und es gibt weitere höchst erfolgreiche Unternehmer.

Von der wirtschaftlichen Öffnung haben im Land noch längst nicht alle profitiert. Die wachsende Mittelschicht, die sich einen Kaffee für vier Euro leisten kann, konzentriert sich in den Städten. Fernab der Ballungsräume dagegen reichen landwirtschaftliche Erträge häufig nicht zum Leben aus, seit es keine staatlichen Kaufgarantien mehr gibt. »Eine wichtige Konsequenz der Doi Moi-Reformen war, dass die Verantwortung für Wohlstand vom Staat auf die Familie übertragen wurde«, betont Rolf Jensen, Wirtschaftsprofessor am US-amerikanischen Connecticut College. In seinem Buch »Women on the Move«, das die Lebensumstände der in Ho Chi Minh City sowie in der Hauptstadt Hanoi allgegenwärtigen Straßenverkäuferinnen beschreibt, erklärt Jensen außerdem die bestehende Armut in den Städten. Viele von ihnen verlassen ihre Familien auf dem Land, um in der Stadt mehr Geld zu verdienen. Gemein haben sie außerdem meist: »Eine prekäre Existenz nahe der Armutsgrenze und ein komplexes Geflecht sozialer Beziehungen in den Dörfern.« Die regierende KP hält dies für ein Übergangsphänomen. Bis zum Jahr 2045 will sie Vietnam zu einem Hocheinkommensland gemacht haben. Bis dahin müsste sich die jährliche Wirtschaftsleistung pro Kopf noch mehr als verdreifachen. Helfen soll dabei nun aber eine verstärkte Zusammenarbeit mit den USA: Der einstige Feind will künftig mehr Handel mit Vietnam betreiben, auch um das Land von allzu intensiven Beziehungen mit Russland und China abzuhalten. In Ho Chi Minh City sieht man das pragmatisch. »In den USA würden wir auch gern ein Café aufmachen«, grinst Pham Thi Ngoc Anh.

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