Zwangswohnungen für Juden: »So kann man doch nicht leben«

Die Online-Ausstellung »Zwangsräume in Berlin« informiert über antisemitische Wohnungspolitik im Nationalsozialismus

Werbung auf der Straße für Gedenken im Netz: »Zwangsräume in Berlin« ist ab sofort verfügbar.
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»Wir wurden in ein ›Judenhaus‹ in unserer Nähe, Mommsenstraße 42, Ecke Waitzstraße, eingewiesen, eine sehr schöne, große Altbauwohnung«, erinnert sich Inge Borck, geborene David, in einem Sammelband an die letzten Monate mit ihren Eltern. 1941 zog die Familie in eines der Berliner Häuser, in denen zwischen 1939 und 1945 Jüdinnen und Juden in Zwangswohnungen zusammengepfercht wurden – »so eng wie in einem Ghetto«, wie Borck feststellt.

Nach und nach wurde eine Familie nach der anderen von der Gestapo aus der Mommsenstraße abgeholt. Borcks Eltern, Martin und Paula David, konnten erst aus ihrer Wohnung fliehen, kehrten dann aber im Geheimen zurück. Aus Angst vor ihrer Deportation gingen sie tagsüber spazieren, um nachts in die leere Wohnung zurückzukehren. »So kann man doch nicht leben! Manchmal denke ich, dass sie froh waren, als sie endlich abgeholt wurden«, schreibt Borck, die selbst nur deshalb überlebte, weil sie bei einer Bekannten untergekommen war.

Die Geschichte der Davids ist eine von vielen. »Wir konnten herausfinden, dass ungefähr die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Berlins vor ihrer Deportation umziehen musste in eine Zwangswohnung«, sagt Johanna Kühne am Montagabend im Roten Salon der Volksbühne. Seit 2020 arbeitet die Historikerin am Forschungsprojekt »Zwangsräume in Berlin« mit, das nun eine interaktive Karte der Öffentlichkeit zugänglich macht. Insgesamt 791 Standorte mit potenziellen Zwangswohnungen sind dort zu finden, zusammen mit 32 ausgewählten Geschichten. »Das sind alle Häuser, in die mindestens fünf jüdische Personen einziehen mussten«, ergänzt Kühne, die wie die anderen Projektmitglieder lieber von Zwangswohnungen statt dem antisemitisch konnotierten »Judenhaus« spricht. Insgesamt, erklärt sie, hätten sich sogar Hinweise auf bis zu 4000 Zwangswohnungen und Zwangsumzüge gefunden.

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Ab dem 30. April 1939 konnten nichtjüdische Vermieter*innen ihren jüdischen Mieter*innen ohne Weiteres kündigen. In Zwangswohnungen landeten Menschen allerdings auch aus finanziellen Gründen nach Verlust der eigenen Arbeitsstelle oder durch Zuzug aus kleineren Orten. »Sie dachten, dass sie in der größeren Community besser geschützt sind«, sagt Kühne. Hoffnungsvoll startete auch die Wohnungsberatungsstelle der jüdischen Gemeinde, die mithilfe von Selbstverwaltung der antisemitischen Wohnungspolitik etwas entgegensetzen wollte. Doch: »Der Verein fiel unter die Kontrolle der Gestapo und musste am Ende sogar die Deportationen selbst mitvorbereiten.«

Meist wählten die Nationalsozialisten kleine Häuser aus, in denen schon zuvor Jüdinnen und Juden gelebt hatten. Trotzdem zeigen die Forschungen, dass in den Häusern auch nichtjüdische Berliner*innen zum Teil Tür an Tür zu den Zwangswohnungen wohnten. »Die Menschen haben das mitbekommen, dass in der Nachbarwohnung plötzlich viel mehr Leute gewohnt haben«, sagt Akim Jah, Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin. Denn in der Regel seien einzelne Personen oder Familien deportiert worden. »Das heißt, es kamen zum Teil auch neue Untermieter*innen und auch Hauptmieter*innen in die Wohnungen und die Gestapo war ständig im Haus.« Später habe die Gestapo die Wohnungen gar mit weißen Sternen gekennzeichnet.

»Was wir bei einigen Häusern belegen konnten, ist, dass die Schlüssel der irgendwann versiegelten Wohnungen bei den nichtjüdischen Portiers abgegeben wurden«, führt Jah aus. Als die Finanzbehörden gekommen seien, um das zurückgelassene Gut zu schätzen und dann einzuziehen, seien Hausmeister*innen oft beteiligt gewesen. »Wir haben hier also nicht nur eine Mitwisserschaft.« Nach Deportationen zum Teil monatelang leerstehende Wohnungen hätten zudem bei Vermieter*innen für Unmut über ausbleibende Einkünfte gesorgt. Das Finanzamt, das die Mieten durch beschlagnahmte Vermögen der Jüdinnen und Juden erstatten sollte, sei oft nicht hinterhergekommen.

»Zwangsräume in Berlin« ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit nicht nur von Akademiker*innen, sondern auch Privatpersonen, die über persönliche Nachforschungen zum Wohnhaus oder zur eigenen Familie ihren Weg zum Projekt gefunden haben. Über den digitalen Ansatz wollen das Aktive Museum und die Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin eine moderne Form des Gedenkens ermöglichen, wie Lena Altman, Co-Leiterin der projektfördernden Alfred-Landecker-Foundation erklärt: »Es ist Kernaufgabe der Erinnerungsarbeit, nicht nur in Bibliotheken, sondern für mehr Menschen zugänglich zu sein.«

Sorgen bereiten Altman zugleich die Eskalation im Nahen Osten und die daran anknüpfenden Entwicklungen auf den Straßen der Hauptstadt. »Es ist uns nicht möglich, auch nur eine Sekunde auszublenden, was in Israel passiert ist«, sagt sie am Montagabend. Es mache wütend, wenn Davidsterne auf Haustüren von Jüdinnen und Juden geschmiert würden, wenn jubelnde Menschenmengen das Leid von Kibbuzbewohner*innen feierten. »Wir erleben Judenhass – ein Phänomen, von dem noch zu viele glauben, es sei etwas aus der Vergangenheit. Er ist es natürlich nicht.« Genau deshalb, sagt Altman, sei die neue Ausstellung so wichtig.

Die Online-Ausstellung sowie Hinweise auf kommende Veranstaltungen im Rahmen des Forschungsprojektes sind auf www.zwangsraeume.berlin zu finden.

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