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Systemwechsel für Chile
Die Regierung von Gabriel Boric kommt bei ihrer Reform der öffentlichen Gesundheitsversorgung nur in kleinen Schritten voran
»Wir wollen, dass unsere öffentliche Gesundheitsversorgung genauso gut wird wie die private«, sagt Patricia Bustamente. Sie sitzt zusammen mit Dina Acevedo am Eingang zu einem Gesundheitszentrum von Renca – einer ärmeren Gemeinde der chilenischen Hauptstadt Santiago. Die beiden gehören dem Rat für die lokale Entwicklung des gemeindeeigenen Gesundheitsdienstes an.
Die beiden älteren Frauen, die mit Sonnenbrillen ausgestattet und in frühlingshaften Kleidern über ihre Erfahrungen und Hoffnungen erzählen, leben an einem Schwerpunkt der Gesundheitsreform, die die Regierung unter Präsident Gabriel Boric umsetzen will. In ihrer Gemeinde soll der Ausbau und der universelle Zugang zur öffentlichen ärztlichen Grundversorgung erprobt werden. Ein Aspekt, der neben einer Neugestaltung der Finanzierung des Gesundheitswesens zum Herzstück der Reform erklärt wurde. Diese wurde ohne ein entsprechendes Gesetz begonnen, weil der Regierung, die sich auf eine Mitte-links-Parteienkoalition stützt, für ein solches schlichtweg die parlamentarische Mehrheit fehlt.
»Früher mussten wir um 5 Uhr morgens vor dem Gesundheitszentrum in der Schlange stehen, um einen Termin zu bekommen, heute können wir anrufen, werden beraten und bekommen einen Termin per Telefon«, beschreibt Bustamente die Veränderungen. Sie lebt schon seit ihrer Kindheit in der Gemeinde. Damals gab es für die 150 000 Einwohner nur ein medizinisches Zentrum. Als vor sieben Jahren ein neuer Bürgermeister gewählt wurde, begann hier der Wandel. »Wir bekamen drei neue Zentren«, berichtet Bustamente, ein weiteres befinde sich im Bau.
Bürgermeister Claudio Castro ist sichtbar stolz auf die Anerkennung durch die Anwohnerinnen. 2016 war er für die Christdemokraten erstmals in das Amt gewählt worden, bei der Kommunalwahl vor zwei Jahren trat Castro als unabhängiger Kandidat an und erhielt mehr als 90 Prozent der abgegebenen Stimmen. Zusammen mit der Direktorin für den kommunalen Gesundheitsdienst Patricia Castillo sitzt der hochgewachsene 40-Jährige in einem Sitzungssaal der Gemeinde und berichtet: »Wir wurden als eine von sieben Gemeinden ausgewählt, um als Pilotprojekt den Zugang zur primären Gesundheitsversorgung zu verallgemeinern.«
Direktorin Castillo erklärt, dass das öffentliche chilenische Gesundheitssystem in zwei Bereiche eingeteilt ist: den primären und den sekundären Gesundheitsdienst. Während letzterer vom Zentralstaat verwaltet wird und die Krankenhäuser sowie die spezialisierte medizinische Versorgung umfasst, ist der primäre Dienst, die Grundversorgung, seit der Militärdiktatur von 1973 bis 1990 den Gemeinden überlassen worden.
»Unsere Aufgabe ist die Gesundheitsförderung und -prävention«, hebt Castillo hervor. »Wir führen Impfkampagnen durch, machen Vorsorgekontrollen und organisieren Aktivitäten für einen gesunden Lebensstil.« Dabei sei es wichtig, einen möglichst großen Teil der Bevölkerung zu erreichen: »Je eher wir Krankheiten entdecken oder sie gar vermeiden, desto günstiger ist es für das Gesundheitssystem überhaupt«, betont die Direktorin.
Bisher richteten sich solche Angebote an alle, die in der öffentlichen Krankenkasse Fonasa sind, rund 80 Prozent der Bevölkerung. Wer eine private Krankenversicherung hat oder im Gesundheitsdienst der Streitkräfte eingeschrieben ist, hatte keinen Zugang. »Das möchten wir ändern«, sagt Castillo. »Dieser Schritt wird die Gesundheit der Bevölkerung auf Jahrzehnte hinaus merklich verbessern.«
Um das zu ermöglichen, muss der gemeindeeigene Gesundheitsdienst deutlich ausgebaut werden. »Wir haben drei neue Zentren gebaut, haben die Zahl an Arztterminen von 200 auf 700 in der Woche erhöht und eine Gesundheitshotline eingeführt«, bilanziert Bürgermeister Castro. Auch die Öffnungszeiten wurden ausgeweitet.
Für Anwohnerin Dina Acevedo ist das ein Glücksfall. Sie hat nur eine private Krankenversicherung und musste bislang für Arztbesuche lange Wege ins Stadtzentrum von Santiago oder in ein Viertel der Oberschicht absolvieren. »Jetzt kann ich einfach zum Gesundheitszentrum um die Ecke.« Und nicht nur für sie sei das praktisch. »Viele meiner Nachbarn haben bei den Streitkräften gearbeitet. Früher mussten sie immer ins Militärspital gehen.«
»Ein universell zugängliches Gesundheitssystem bedeutet mehr Demokratie und soziale Integration«, sagt mit einem Lächeln Bernardo Martorell, der Koordinator der Gesundheitsreform auf nationaler Ebene. Neben ihm im Ministerialbüro sitzt Gesundheitsministerin Ximena Aguilera. Auf dieses Projekt hat die Ärztin und Gesundheitspolitikerin lange hingearbeitet. »Chile hatte schon immer ein fragmentiertes Gesundheitssystem: ein öffentliches und mehrere private. Während der Diktatur wurde diese Spaltung weiter verstärkt und das private Gesundheitssystem ganz auf Profite ausgerichtet.«
Die privaten Kassen sind vor allem an jungen, gesunden und zahlungskräftigen Mitgliedern interessiert, da die Prämien mit dem Alter steigen. Obwohl rund vier Fünftel der potenziellen Patienten im öffentlichen System sind, arbeitet hier nur knapp die Hälfte aller Ärzte.
Es sei ein Ziel aller Regierungen nach der Militärdiktatur gewesen, betont die Ministerin, das öffentliche Gesundheitssystem zu stärken. »In der ersten Regierung von Michelle Bachelet von 2006 bis 2010 saß ich in einer Kommission, die genau das umsetzen sollte.« Doch das Gesetzesprojekt schaffte es nie ins Parlament, weil dort die Mehrheiten dafür fehlten.
»Die Pandemie hat uns zwei Dinge gezeigt: ein universelles Gesundheitssystem ist möglich und das private mit seiner marktliberalen Logik so nicht zukunftsfähig«, fährt die Ministerin fort. Während Corona seien per Notstandsverordnung alle Gesundheitseinrichtungen dem Ministerium unterstellt worden. Man habe Fixpreise für medizinische Leistungen festgelegt und Patienten weniger belasteten Krankenhäusern zugewiesen.
Gleichzeitig gerieten die privaten Krankenkassen in Finanznot. Dazu trug ein Urteil des Obersten Gerichts bei, das eine Diskriminierung nach Geschlecht bei den Versicherungsprämien für illegal erklärte.
»Präsident Gabriel Boric hat in seinem Regierungsprogramm drei tiefgreifende Reformen aufgelistet: eine Steuerreform, eine Reform des Rentensystems und unser Thema, die Gesundheitsreform«, zählt Aguilera auf. Ihr Ziel sei es, betont die Ministerin, ein universales Gesundheitssystem aufzubauen, in dem öffentliche und private Akteure miteinander kooperieren. Mit einer öffentlichen Krankenkasse, die private Zusatzversicherungen anbietet. »Es wäre neben Uruguay das erste System dieser Art in Südamerika«, stellt die Politikerin fest.
Doch der Weg dahin ist schwer. Für die Finanzierung braucht der Staat zunächst eine Steuerreform, die Schlupflöcher schließt und Reichtum höher besteuert. Dieses Vorhaben wurde im März vom Parlament abgelehnt, in dem das Regierungslager nur ein Drittel der Sitze stellt. Das Pilotprojekt im Gesundheitssektor wird durch einen Kredit der Weltbank finanziert. »Wir weisen die Verbesserungen nach und verankern das neue System später durch Gesetze«, zeigt sich Planer Martorell optimistisch. Seine Chefin verweist darauf, dass demnächst als Teil eines Notgesetzes zur Rettung der privaten Krankenkassen die öffentliche das Recht erhält, in Kooperation Zusatzversicherungen zu vertreiben. Das wäre ein Schritt in die angestrebte Richtung.
Nach dem Gespräch steht die Ministerin auf und blickt kurz auf einen Sitzungstisch voller Papiere: »Den hat schon Allende benutzt, als er Minister war«, erklärt sie zum Abschied. Der 1973 durch einen Putsch gestürzte sozialistische Präsident war von Beruf Arzt und von 1939 bis 1942 Gesundheitsminister in einer liberalen Reformregierung. Er gilt als einer der Gründer des öffentlichen Gesundheitssystems.
Nur wenige Kilometer entfernt, an der Schule für öffentliche Gesundheit »Salvador Allende« der Universität von Chile sitzt der Chef des Programms für Gesundheitspolitik, Cristián Rebolledo, in einem einfachen Büro. Sein Blick ist weniger optimistisch als der der Ministerin: »Es ist klar, dass es einer Reform der Finanzierung bedarf, doch politisch gibt es dazu keinen Konsens.« Viele Politiker würden das private Gesundheitssystem retten wollen, statt es in ein allgemeines zu integrieren. »Es fehlt am Willen zu einer Reform«, ist sich der Experte sicher.
Bei der Rechten hätten internationale Organisationen nicht mehr viel Prestige. Hier sei die Meinung weitverbreitet, Institutionen wie die WHO verfolgten dunkle, gar kommunistische Ziele. »Es ist wichtig, zuerst das öffentliche Gesundheitssystem zu verbessern«, meint Rebolledo. Bis heute gebe es lange Wartelisten für Operationen, und in vielen Gemeinden müsse man weiterhin vor dem Gesundheitszentrum anstehen. Das schrecke viele ab. »Das ist wie bei einem Fitnessstudio: Wenn alle, die ein Abo haben, es voll nutzen würden, wäre das Studio überfüllt.«
In der Gemeinde Renca hat man längst reagiert. Anwohnerin Dina Acevedo berichtet, dass Vertreter der Gesundheitszentren in die verschiedenen Viertel gehen, Vorsorgeuntersuchungen anbieten und Anwohner sich einschreiben. In gut einem Jahr waren es bereits etwa 7000. Acevedo ist dennoch weiterhin bei einer privaten Krankenkasse. Sie habe auch nicht vor zu wechseln: »Wir wollen die Freiheit haben, uns auszusuchen, wo wir uns behandeln lassen.« Das neoliberale Credo hat sich in Chiles Gesellschaft tief verankert.
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