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Anja Reichs »Simone«: Ein Ostberliner High-Society-Girl

Eine Diva aus Lichtenberg, ihr Selbstmord und die Frage nach dem Warum: Anja Reichs »Simone«

  • Anne Hahn
  • Lesedauer: 4 Min.

Simone faszinierte mich. Ihre Schönheit, ihr Modebewusstsein, ihre Dramen. Sie war anders als die stillen, ehrgeizigen Mädchen, die ich aus meiner Klasse kannte», schreibt Anja Reich über ihre alte Freundin. «Sie schillerte, sie strahlte, spielte Gitarre, sprach Tschechisch und lernte Französisch. Sie war Model, nahm am Schaufrisieren und an Modenschauen teil, kam mit den verrücktesten Frisuren zurück, ihre Augen dunkel geschminkt, die Lippen knallrot, dazu bunte Kleider und lange Ketten. Ich wäre niemals so auf die Straße gegangen. Simone aber kannte keine Scham, lief durch die Straßen von Berlin-Lichtenberg wie eine Hollywood-Diva.»

Die Faszination für ihre Freundin bleibt der Autorin und Journalistin Anja Reich erhalten. Bis Simone so lange tot ist, wie sie alt wurde, und Anja beginnt, Fragen zu stellen. Ende der 60er in Ostberlin geboren, wuchs sie wie Simone in Lichtenberg auf und arbeitet seit fast 30 Jahren für die «Berliner Zeitung». Jetzt legt sie im Aufbau-Verlag die Geschichte ihrer Freundin Simone vor, die sich 1996 das Leben nahm.

«Als ich Simone das erste Mal sah, saß sie in ihrem Kinderzimmer. Ein Mädchen, 15 Jahre alt, blass, lange dunkle Haare, dunkle Augen, energisches Profil. Ihr Zimmer war klein und aufgeräumt. Ein Schrank, eine Kommode, ein Bett, und ganz hinten, am Fenster, ihr Schreibtisch. Da saß sie, kerzengerade wie eine Ballerina.»

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In den nächsten zwölf Jahren sollen sich die beiden immer wieder begegnen. Während Anja eine Familie gründet, bleibt Simone Single und ruhelos auf Achse. Bis sie sich mit 27 das Leben nimmt, ohne Abschied. Nach weiteren 27 Jahren macht sich Anja Reich auf, das Warum zu ergründen. Sie besucht den Bruder, die Eltern, eine Cousine, Freundinnen Simones, findet ehemalige Liebhaber, holt sich Rat von Experten zu Borderline-Störungen und Suizid.

«Ich kannte niemanden, dem es in der DDR so gut gegangen war wie Simone, ein Mädchen, das seine Talente ausleben konnte, dem es an nichts fehlte. Ein Ostberliner High-Society-Girl, für das die Mauer genau zum richtigen Zeitpunkt fiel.»

Die Spurensuche beginnt mit der Kindheit von Simones Vater in einem mecklenburgischen und der der Mutter in einem tschechischen Dorf, begleitet beider unstetes Leben mit Studium und Umzügen bis zur Landung in Ostberlin, wo sie als Ärzte ein privilegiertes Leben führen. Der Preis: Simone wird als Säugling in einer Wochenkrippe untergebracht, lebt als Sechsjährige ein halbes Jahr bei den Großeltern in der Tschechoslowakei, leidet später unter Verlustängsten.

«Simone» ist ein literarisch gestaltetes Porträt. Details aus Simones Lebensweg gleicht Anja Reich mit ihrem eigenen ab, mit Erinnerungen der Freundinnen und Verwandten. Derart verschränkt, erwächst aus der Erzählung ein Panorama der DDR wmit großartigen Berlin-Bildern: Etwa wenn sie André und Simone auf ihr Hochhausdach in Lichtenberg führt am ersten Tag in der Stadt. «Zwei Kinder über den Dächern Berlins. Sie sehen den Fernsehturm am Alexanderplatz, das Riesenrad vom Plänterwald, die weißen Häuser der Gropiusstadt und die Flugzeuge, die in Tegel starten, in dem anderen Teil der Stadt, von dem sie noch nichts wissen.»

Wir wissen von Beginn an, wohin die Reise führt. Spannend ist, wie Anja Reich diesen Weg erzählt. Warum hatte ihr Freund André ihr nie gesagt, dass er einen Kompromiss mit dem Ministerium für Staatssicherheit eingehen musste für sein Studium? Hat Simones Vater je bereut, für seine Karriere am Polizeikrankenhaus in die Partei eingetreten zu sein? Mit Geduld, Mut, Feingefühl recherchiert Reich auch die dunklen Seiten der Geschichte, ohne die Protagonisten vorzuführen.

Die alternden Eltern machen sich später auf, im Westen ihr Glück zu suchen, während die Kinder ohne Ziel und Halt durchs anarchische Gesamt-Berlin stromern. Doch die Ereignisse von 1989 sind für Anja Reich Auslöser der Lebensunfähigkeit Simones und eines Teils ihrer Generation.

«Es gibt einen Satz, der immer wieder fällt in Gesprächen, die ich über Simone führe, über die Zeit nach dem Fall der Mauer, der Wiedervereinigung. Der Satz lautet: ›Da habe ich auch an Selbstmord gedacht.‹» Anja Reich fragt, ob diese Menschen Opfer der Wiedervereinigung waren und Simone zu ihnen gehört. Simone gehört sicherlich zu den Menschen, die das «Verschwinden von Autoritäten, Regeln, Normen, Werten und Privilegien, die ihr Leben bis dahin bestimmt haben», nicht verkraftet haben. Wie aber könne man dann weiterleben, fragt die Autorin.

Annett Gröschner schreibt in ihrem Essay «In der Pfütze tanzen – Feiern in der DDR» (enthalten im Katalog zur Ausstellung «Der große Schwof – Feste feiern im Osten», 2023/2024 in Jena, Cottbus und Rostock zu sehen): «Die reale Geschichte der DDR ist abgeschlossen, aber sie ist nicht tot. Der Beitritt zur Bundesrepublik 1990 hat das Leben der Ostdeutschen zwar persönlich freier, aber nicht unbedingt sorgloser gemacht. Es ist nur anders.»

Anja Reich: Simone. Aufbau, 301 S., geb., 23 €.

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