Mutmaßungen über die Gegenwart

Ein Brief an Uwe Johnson

  • Jan Decker
  • Lesedauer: 10 Min.
Der Busbahnhof Wien, hier ohne Reisegesellschaft, die jedoch sicher bald auftauchen wird
Der Busbahnhof Wien, hier ohne Reisegesellschaft, die jedoch sicher bald auftauchen wird

Es ist eine Reisegesellschaft. Sie startet an unregelmäßigen Tagen vom Busbahnhof aus, der vor dem Eingangsgebäude des Hernalser Friedhofs in Wien liegt, sehr geehrter Uwe Johnson. Manchmal treffe ich zufällig, wenn mein Weg an der Straße vor diesem Friedhof entlangführt, auf dem unsere Kollegen Christine Nöstlinger und Günther Anders begraben sind, auf jene Reisegesellschaft. Nie kenne ich genau den Tag, an dem das geschieht, immer wieder überrascht mich ihr Anblick. Dann sieht man Menschen aus allen Richtungen auf die drei oder vier großen Busse zuströmen, deren Türen und Ladeklappen offen stehen. Sie tragen alle große und kleine Gegenstände in der Hand, Pakete, Koffer, Schuhe, was auch immer. Sie verschwinden in den Reisebussen. Diese bleiben noch ein paar Minuten mit geöffneten Türen auf ihren Parkplätzen stehen. Schließlich fahren sie los, nachdem im letzten Moment noch ein, zwei Menschen die Busse verlassen haben und der Reisegesellschaft jetzt herzlich zuwinken. Die Busse verschwinden.

Vielleicht interessieren Sie meine Beobachtungen. Ich weiß nicht viel über diese Menschen, aber ich stelle seit Tagen und Wochen Mutmaßungen über sie an, so wie Sie Mutmaßungen über eine Figur namens Jakob Abs angestellt haben. Und deshalb, weil Sie das getan haben, wollte ich Ihnen diese Szene schildern und Ihnen erzählen, wie sehr sie mich beschäftigt, sehr geehrter Uwe Johnson. Sie fordert mich nämlich zum Erzählen auf, ich glaube, jene Reisegesellschaft verkörpert für mich sogar den Keim des Erzählens. Was ich erzählen will, tut dabei gar nichts zur Sache; ich glaube, man hat es hier mit Universalien des Erzählens zu tun. Mit Gegenwart, die in Literatur überführt werden möchte, weil sie in Bewegung ist, mehrdeutig, rätselhaft, und weil sie sich geflechtartig in alle Richtungen entfaltet. Vielleicht werde ich einmal einen Roman mit dieser Szene vor dem Hernalser Friedhof beginnen lassen.

Inzwischen habe ich herausgefunden, sehr geehrter Uwe Johnson, dass die Reisebusse nach Serbien fahren. Sie fahren in Städte mit langen, klangvollen Namen, die ich nicht kenne und die mir schon beim bloßen Lesen Schwierigkeiten der Intonation bereiten. Diese Fremdheit verstärkt nur meine Neugier auf jenen Erzählstoff. Ich vermute hier Zusammenhänge zwischen Figuren, wie sie mir auch in Ihren Romanen immer wieder begegnen. Kinder suchen da nach ihren Eltern, Geschwister sehen sich wieder, Geliebte werden nach einer langen Zeit der Trennung wiedervereint oder reisen auseinander, um sich zu trennen.

Vieles an dieser Reisegesellschaft bleibt Geheimnis, aber das stört mich beim Erzählen überhaupt nicht. Ich bin bereit, diesen Rest auszufantasieren, ihn in meine Sprache und meine Vorstellungen zu überführen. Aber dass da eine Trennung, eine Abfahrt, ein Neubeginn stattfindet, verspricht für mich Literatur zu sein, verstehen Sie das? Ich glaube, die Geschichte jener Reisegesellschaft beschäftigt mich noch mehr, seit der Krieg in der Ukraine begann. Reisen diese Menschen in Richtung dieses Krieges, kommen sie mit ihm in Berührung, wird er sie streifen, in Ruhe lassen, kaltlassen?

Ist es nicht ein seltsames Ding mit der Gegenwart, dass sie manchmal solche erzählerischen Funken für uns schlägt? Haben Sie auf so eine Weise auch schon einmal Stoffe geschenkt bekommen? Ich muss Ihnen die Schwierigkeit der funkenlosen Erfindung von Literatur ja gar nicht schildern, sehr geehrter Uwe Johnson, den schmalen Grat zwischen Inspiration und Verzweiflung. Ich bin meiner Hernalser Reisegesellschaft dankbar, weil sich ihre Erscheinungsform zudem jeden Tag etwas verwandelt. Mal sind nur ein oder zwei Busse auf den Parkplätzen dort abgestellt, mal sind sie mit einem ominösen Strafzettel über 75 Euro für angebliches Falschparken ausgestattet, mal nicht. Oft hüpfen dieselben zwei Krähen oder Tauben um diese abgestellten Busse herum, um die zurückgelassenen Brotkrumen der Reisegesellschaft aufzupicken, ihre für mein Auge unsichtbare Hinterlassenschaft. Und neulich standen am Bussteig mehrere Gegenstände herum, die von den abgefahrenen Bussen stammen mussten, eine Kiste mit Kinderspielzeug, Kleidung, ein paar Schuhe, ein Klapprad. Wie würden Sie diese ganze Geschichte lesen oder noch besser schreiben?

Ich glaube jedenfalls, dass Sie die Szene berührt hätte. Reisende, die mit jeder Abfahrt nach Serbien vor einer neuen Möglichkeit stehen, ihr Leben zu verändern. Die vielleicht in jenen schrecklichen Krieg hineingezogen werden, ob sie wollen oder nicht, der mit der bloßen Anwesenheit dieser Reisebusse vor meinem Auge auch für mich ein Stück greifbarer wird. Hätte Sie nicht auch berührt, dass da Menschen zwischen mindestens zwei Ländern und Kulturen stehen? Ich beobachte manchmal auch die serbischen Männer, wie sie laut und herzlich miteinander reden, dann spucken sie plötzlich heftig aus und ziehen wieder an ihren kurzen, filterlosen Zigaretten. Was sind ihre Verluste, verstehen Sie meine Frage? Müssen einige von ihnen in den nächsten Jahren sterben, so wie Ihr Jakob Abs auf eine zugegeben geheimnisvolle Art sterben musste? Welche Fehler liegen vor diesen Reisenden? Oder transportiere ich hier nur eigene Verlustängste in wildfremde Personen hinein, sehr geehrter Uwe Johnson?

Und dann ist da die sinnliche Präsenz jener Reisebusse, die mich beschäftigt: Einer ist leuchtend weiß, hat serbische Wörter auf der Fahrertür stehen, die ich ebenfalls kaum aussprechen kann, so konsonantenreich sind sie, doch dann steht da ein deutschsprachiger Schriftzug groß auf der Seite des Busses: »Gemeinsam reisen, gemeinsam erleben«. Die anderen zwei, drei Busse sind violett, aber sie gehören zum selben Busunternehmen; sie sind alle groß, wirken komfortabel, haben Piktogramme auf ihren Fenstern aufgeklebt; eines zeigt eine Serviererin mit einem Tablett, es wird in diesen Bussen also bedient; ich frage mich jedes Mal, warum die Person auf dem Piktogramm eine Frau ist; wer hat sich jene Piktogramme eigentlich ausgedacht?

Ich bin mir sicher, Sie wundern sich nicht über mich. Meine Fragen an diese Szene kommen Ihnen nicht seltsam vor, nein, sondern wie das Warmlaufen eines Erzählers vor seinem Sprung in den Text, nicht wahr? Ist es nicht merkwürdig, dass Sie, als Sie bereits in der BRD lebten, oft auf den Priwall bei Travemünde fuhren, um durch den Stacheldraht dort am Strand hindurch einen Blick auf Ihre alte Heimat zu werfen? Auch das kommt mir nicht merkwürdig vor, die Sehnsucht nach Mecklenburg und Pommern ist eine Realität, ein Ort, egal ob nun der Priwall oder der Busbahnhof vor dem Hernalser Friedhof, materialisiert Geschichten. Ich bin am Main aufgewachsen, im Badewannenklima des Maintals, und dort haben sich für mich zum ersten Mal Geschichten materialisiert. Die wirklich spannenden Geschichten, sehr geehrter Uwe Johnson, wie jene von den serbischen Reisebussen, spielen sich aber in den großen Städten ab, so ist es nun einmal. New York, Wien, sie werfen viel erzählerisches Futter ab, nach dem wir Schriftsteller wie Tauben gierig picken. Und trotzdem überkommt mich neuerdings eine Beklommenheit, wenn ich an der Straße vor dem Friedhof wieder auf die Reisegesellschaft treffe.

Wissen Sie, warum? Denn ich verhalte mich merkwürdig, wenn ich um diese Reisegesellschaft, so wie heute, minutenlang herumschleiche. Ich verhalte mich dann wie ein Agent oder Privatdetektiv, ich bin der kalte Erzähler, der Menschen gerade mit seinem Blick zu Figuren degradiert. Und wehe, diese erspähen mich; kennen Sie auch jenen schlimmen Fluch, der den Erzähler treffen kann: dass sich dann alles vor seinem Auge in ein Nichts auflöst? Davon berichten ja auf andere Weise unsere Schreibkrisen, auch ich hatte meine, sehr geehrter Uwe Johnson, aber schweigen wir davon. Dabei will ich doch gar nicht meine Reisegesellschaft auskundschaften oder denunzieren. Nur bin ich eben so dickköpfig, daran zu glauben, dass sich Literatur von Zeit zu Zeit in solchen Momenten der Gegenwart materialisiert.

Der Dresdner Hauptbahnhof (Aufnahme von 1956): Hier starb Johnsons Protagonist Jakob Abs auf mysteriöse Weise.
Der Dresdner Hauptbahnhof (Aufnahme von 1956): Hier starb Johnsons Protagonist Jakob Abs auf mysteriöse Weise.

Sie kennen solche erregenden Zustände? Wenn die Gegenwart wie angereichert erscheint, wenn wir am liebsten von diesen Szenen sofort an den Schreibtisch springen würden, all das aufschreiben, was wir erspähen? Ich sah vorhin zum Beispiel zwei Männer, die mit langen Stangen die Fensterscheiben des weißen Busses putzten, während zwei andere Männer schwere Taschen in den Passagierraum eines der violetten Busse luden. Es ist für mich nie vorausschaubar, sehr geehrter Uwe Johnson, was mit dieser Reisegesellschaft gerade passiert, und das macht ihren großen erzählerischen Reiz aus. Das sind Beobachtungen, die nur wir Schriftsteller machen, weil wir ja überhaupt die Einzigen sind, die sich derart obsessiv mit drei oder vier abfahrenden serbischen Reisebussen beschäftigen. Merkwürdig, die Frauen kommen immer zuletzt, erst wenn die Busse kurz vor der Abfahrt sind, treffen sie ein; sie werden von Dutzenden Autos aus der ganzen Stadt zum Busbahnhof gebracht, und dann nimmt auch die Heftigkeit der Emotionen zu, es ist ein allgemeines Winken, Umarmen, Weinen und Lachen angesagt.

Nur wohin will ich eigentlich mit diesem Stoff? Er ist sicherlich bloß die Rohmasse für einen wie Jakob Abs, einen wirklichen Protagonisten, der in jene Busse steigt oder ihnen ausweicht. Da fehlt noch jemand in meiner Geschichte, nicht wahr? Und da merkt man ja schon, was für eine verfluchte Arbeit dieses Schreiben macht, das mir allein für diese Rohmasse eine Blickgenauigkeit abverlangt, die mich an den Rand der alltäglichen Entspanntheit bringt. Deshalb bin ich beim Beobachten jener Reisegesellschaft auch ein Kettenraucher, der sich hinter den Glimmstängeln versteckt, um einen Grund zu haben, auf die Serben und ihre Busse glotzen zu dürfen. Und wenn die einmal herausfinden, dass sie da von einem Schriftsteller eingehend unter die Lupe genommen werden? Kennen Sie diese lächerliche Angst vor den eigenen Figuren, sehr geehrter Uwe Johnson, zumal wenn sie Serben sind und damit der körperlichen Auseinandersetzung nicht abgeneigt, halbe Russen sozusagen?

So kommen dann auch bei mir Alkohol und Zigaretten ins Spiel, sehr geehrter Uwe Johnson, unsere hässlichen Hilfsmittel als Schriftsteller, um die ganze Szene und das, was ich aus ihr mache, zu verdauen. Wenn ich Ihnen hier in diesem Brief davon berichte, dann doch nur unter dem Deckmantel der Diskretion. Ein Schriftsteller muss jedenfalls einen gut beobachteten und relevanten Stoff haben, starke Figuren, eine gesunde Skepsis und unzählige Fragen. Wie lässt sich jene anspruchsvolle Mischung denn anders herstellen als mit der Hilfe von Suchtmitteln? Mir hilft es ja nichts, dass ich an einem Fluss namens Main aufwuchs, eine prägende Herkunft habe, Sehnsucht nach dem Badewannenklima am Wasser im Tal da unten. Ich bin heute in eine fremde Welt gestoßen, die sinnlose Kriege führt. Für diese Fremdheit stehen schließlich auch die Orte unserer Schreibkrisen, bei Ihnen war es Sheerness-on-Sea und bei mir, Sie werden jetzt lachen, Osnabrück.

Möchte ich Sie also um einen konkreten, kollegialen Ratschlag bitten? Aber nein, das geht nicht, ich muss auf meinen Jakob Abs warten, auf meine Gesine Cresspahl, auf die Hauptfigur, die erst das Salz in der Suppe dieser ganzen Geschichte ist. Noch sehe ich nur ununterscheidbare serbische Männer, die in den Tagen vor der Abfahrt jene Busse irgendwie auf Vordermann bringen, ominöse Taschen in sie verladen, manchmal sind es auch längliche Gegenstände, die sie in die großen Laderäume unter den Sitzreihen packen. Etwa Skier?

Ja, sehr geehrter Uwe Johnson, ich muss diese Geschichte erst aussitzen, die vielleicht von Serbien handelt, vielleicht vom Krieg in der Ukraine, vielleicht von meiner Fremdheit in Wien, vielleicht von Christine Nöstlinger, deren erster Ehemann ein Angsthase war, oder von Günther Anders, dem früheren Ehemann von Hannah Arendt, der auf mich, obwohl ich wenig über ihn weiß, irgendwie verloren wirkt. Der Sinn der Literatur ist unscharf, ich meine den wahrnehmenden Sinn, den, der Literatur erschafft.

Ich denke an die 21 Monate, die ich in Mecklenburg und Pommern gelebt habe. Ich hätte niemals über die Menschen dort schreiben können, anders als Sie, obwohl ich sie nett und interessant fand, diese Menschen. Aber ich kannte sie einfach nicht so gut wie meine Menschen im Maintal. Kann ich stattdessen aber über Serben schreiben? Ich höre Sie förmlich lachen. Die Rohmasse meiner Geschichte ist reizvoll, würden Sie bestimmt sagen. Ich stimme Ihnen zu und stelle fest, dass ich in Mecklenburg und Pommern glückliche Tage hatte, meine Neugier auf Figuren und Geschichten war dort vielleicht einfach deswegen schwach ausgeprägt. Also suche ich weiter nach der Serbin oder dem Serben in mir, nach Jakob Abs oder Gesine Cresspahl, beobachte weiter die Reisegesellschaft, die jetzt schon über eine der großen Donaubrücken fährt, weiter nach Osten, während die unzähligen Autos, die die Frauen zum Busbahnhof gebracht haben, sich jetzt wie Ameisen zerstreuen, die einen Futterplatz entschlossen ausgebeutet haben.

Jan Decker ist Schriftsteller. Er schreibt Prosa, Dramen, Essays und gelegentlich Lyrik. Letztes Jahr erschien sein Buch »Mösers Rückkehr. Kurzer Roman eines langen Lebens« im Meinders & Elstermann Verlag, dieses Jahr das Hörspiel »Vampir Haarmann« im SWR/BR.

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