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»Wir träumten von einer Demokratie«
Der im Berliner Exil lebende Journalist Can Dündar spricht über 100 Jahre türkische Republik
Was für eine Türkei ist das, die an diesem Wochenende die Gründung der türkischen Republik vor 100 Jahren begeht?
Es ist eine Autokratie, wir träumten von einer Demokratie. Jahrzehntelang haben wir für eine demokratische Türkei gekämpft, die das Rechtsstaatsprinzip respektiert, die Menschenrechte, die Pressefreiheit, Gleichheit von Mann und Frau. Was wir bekommen haben, ist eine Art von Autokratie ohne Rechtsstaatlichkeit, ohne Pressefreiheit und ohne eine echte Demokratie. Nach 100 Jahren kämpfen wir immer noch für Demokratie, weil die Republik wichtig ist, aber nicht genug: Es gibt viele Republiken unter autoritärer Herrschaft, aber ohne Demokratie kann die Republik eine Autokratie sein, wie wir in der Türkei gelernt haben.
Ähnelt die gegenwärtige Türkei dem Staat, den Republikgründer Mustafa Kemal, genannt Atatürk, sich vorgestellt hat?
Nein, überhaupt nicht. Atatürk träumte von einer westlichen, modernen, insbesondere säkularen Türkei. Und heute haben wir eine östliche, traditionelle, islamische Türkei. Genau das Gegenteil also, aber in den ersten zehn Jahren war die autoritäre Herrschaft mehr oder weniger die gleiche wie heute, um die Reformen in der Gesellschaft durchzusetzen: ein Mann und das Ein-Parteien-System, und wir sind nach 100 Jahren dahin zurückgekehrt.
Wie wird die Türkei diese 100-Jahr-Feier begehen?
Sie können sich nicht die Enttäuschung vorstellen innerhalb der demokratischen Gesellschaft. Man erwartete große Feierlichkeiten. Ich vermute, es wird keine solchen Feierlichkeiten geben, von denen viele geträumt haben. Heute morgen habe ich mit meinem Anwalt gesprochen. Er ist kein Freund von Fahnen, meinte aber, dass es keine geben werde. Erdoğan hat die Menschen aufgefordert, an diesem Samstag die Palästinenser zu unterstützen. In vielen Städten wird es höchstwahrscheinlich große Demonstrationen geben, und das wird die Feierlichkeiten zum Republikgeburtstag am Sonntag überschatten. Ich vermute, Erdoğan will die Republikfeiern mit den Demonstrationen für die Palästinenser ersetzen. Soweit ich verstanden habe, wird es am Samstag eine Menge Demonstrationen geben, und die Überschriften in den Zeitungen am Sonntag werden von Palästina handeln, nicht von der türkischen Republik.
Erdoğan hat ein geplantes Treffen mit der israelischen Regierung abgesagt. Er hatte sich im Konflikt zwischen Israel und der Hamas als möglicher Vermittler ins Gespräch gebracht. Wie beurteilen Sie das?
Erdoğan ist ein Führer, der in der Lage ist, Krisen in Chancen zu verwandeln. Wir haben das gesehen in der Flüchtlingskrise, in der Ukraine-Krise, in der Nato-Krise mit Schweden. Er wittert die Gelegenheit und springt hinein: Okay, wir haben diplomatische Beziehungen mit Israel und ich habe gute Kontakte zur Hamas; wir beherbergen sie in einem Istanbuler Büro. Das ist eine riesige Gelegenheit für ihn. Wenn er Hamas überzeugen kann, die Geiseln freizulassen, dann kann er sich Israel annähern. Und plötzlich haben wir letzte Nacht gesehen, dass er die Mitgliedschaft Schwedens in der Nato gebilligt hat. Was ist passiert? Er hatte sich doch monatelang dagegengestellt. Plötzlich hat er die Gelegenheit ergriffen: Er hoffte, eine Beziehung zu den USA aufzubauen. Jetzt spielt er diese Karte aus, um zu zeigen: Ich bin bereit, eure Interessen in der Region zu vertreten. Ich bin hier und nicht länger ein Problem in der Nato. Er ist ein Pragmatiker und könnte in der türkischen Innenpolitik gut verkaufen, dass er sagt, ich rette die Palästinenser. Und wenn er will, kann er das tun. Bislang hat er keine großen Demonstrationen für Palästina organisiert, weil er seine potenzielle Rolle als Vermittler nicht kaputtmachen wollte. Deshalb hat er bei diesem Thema anfangs auch nicht viel Druck gemacht. Jetzt versucht er, auf den Zug aufzuspringen.
Bei einer Demonstration für die Palästinenser in der Türkei sagten die Teilnehmer, Erdoğan solle die Armee schicken, die würden Israel zerquetschen. Andere erklärten sich bereit, selbst gegen zu Israel kämpfen. Ist das die allgemeine Stimmung in der Türkei?
Das ist das Gefühl in der islamischen, arabischen Welt, auch in der Türkei. Es gibt große Sympathie für Palästina und eine Art Hass gegen Israel. Leider können wir Hamas nicht als terroristische Organisation ansehen und Netanjahus Likud nur als eine aggressive Partei. Die Polarisierung ist so groß, dass du entweder Palästinenser bist oder Israeli. Dazwischen gibt es keinen Platz. Wenn Sie sagen wollen, Hamas repräsentiere nicht das ganze palästinensische Volk oder Likud nicht alle Israelis, können Sie von beiden Seiten gelyncht werden. Das ist die schwierige Linie.
Verfolgen Sie die deutsche Debatte zu diesem Konflikt?
Natürlich, man kann dem gar nicht entkommen. Es ist eine ähnliches Stimmung. Wenn Sie hier sagen, die palästinenensische Zivilbevölkerung sollte nicht bombardiert werden, dann können sie leicht als Antisemit oder so angesehen werden. Das ist gefährlich. Und wenn sie in der Türkei sagen, Hamas ist eine terroristische Organisation, wird man schnell antworten, sie seien ein israelischer Agent. Wir sollten den Raum zwischen diesen Polen öffnen, das ist keine Schwarz-Weiß-Story, es gibt viele graue Bereiche, aber niemand ist dazu bereit.
Sie sagten, dass Hamas Büros in Istanbul habe. Wie wichtig ist deren Beziehung zur Türkei?
Vergangene Woche hat Erdoğan Hamas aus der Türkei rausgeschmissen. Erdoğan hat sie aufgefordert, Istanbul zu verlassen. Das ist ein Zeichen dafür, dass er diese Rolle als Vermittler annehmen will. Aber warum bin ich hier in Berlin im Exil? Weil ich gegen die türkische Politik gekämpft habe, Organisationen wie Hamas und ISIS zu unterstützen. Sie haben ihnen Waffen geliefert und ihnen Unterschlupf gewährt. Wenn Sie das kritisieren, sind Sie der Verräter und werden rausgeworfen. Jetzt sieht die ganze Welt die Gefahr. Erdoğan schmeißt sie jetzt raus, das ist Tagespolitik. Ich kann Ihnen die Meldungen dazu zeigen, »The Times of Israel« hat zum Beispiel darüber berichtet. Wie ich Ihnen gesagt habe: Erdoğan hat eine islamistische Ideologie, aber er ist gleichzeitig ein solcher Pragmatiker, dass er leicht die Seiten wechseln kann. Diese Flexibilität hält ihn am Leben.
Dann ist die Entscheidung, den Beitritt Schwedens zur Nato nicht länger zu blockieren, auch dieser Tagespolitik geschuldet, seinem Pragmatismus?
Wahrscheinlich bewahrte er die Einwilligung in seiner Hosentasche auf und wartete nur auf den richtigen Moment. Jeder wusste, dass er nicht der ganzen Nato widerstehen kann, aber er wartete ab, um damit etwas zu erreichen. Er machte Druck auf Finnland und Schweden, um die türkischen Exilanten ausgeliefert zu bekommen, die in diesen Staaten leben, aber er kam damit nicht durch; Finnland und Schweden widerstanden seinem Druck. Dann hat er entschieden, seine Zustimmung für einen anderen Hebel aufzubewahren, und ich vermute, dass er etwas erhalten hat für seine Zustimmung. In wenigen Wochen werden wir das sicherlich erfahren.
Vor einigen Monaten hat Erdoğan den Willen erneuert, der Europäischen Union beizutreten. Das überraschte alle, zumal er es mit dem Nato-Beitritt Schwedens verband. Ist das tatsächlich noch ein Thema in der Türkei?
Das ist nur ein Spiel, das Erdoğan spielt. Jeder wusste, dass das unmöglich ist unter den gegebenen Umständen. Wer würde die Türkei als EU-Mitglied akzeptieren? Selbst in der Nato macht die Türkei viele Probleme. Die EU hat genug Probleme und die Türkei zu viele Lasten, um ein Mitglied der europäischen Familie zu werden. Jeder weiß, dass das ein Witz war, aber niemand lacht.
Die Nato hat Probleme mit der Türkei, sagen Sie, aber die Nato braucht die Türkei auch.
Natürlich, sie lieben die Türkei dafür, dass sie als Soldat an der europäischen Außengrenze wirkt. Sie lieben die Türkei, um Geschäfte zu machen. Sie lieben die Türkei, wenn sie die europäischen Grenzen vor den Flüchtlingen schützt. Aber sie wollen die Türkei nicht als Mitglied der europäischen Familie.
Ist das ein ehrliches Spiel seitens der EU und der europäischen Staaten?
Das sind doppelte Standards, Unehrlichkeit. Leider zeigt uns das, dass die Interessen Europas wichtiger sind als seine Werte.
Die EU bietet der Türkei bisher keine Perspektive für einen Beitritt, vertröstet Ankara seit Jahren. Wie nehmen Sie das wahr?
Ich war nicht mal geboren, als die Türkei einen Beitrittsantrag an die EU stellte. Ich bin jetzt fast 60 und jetzt wartet mein Sohn vor der Tür der EU. Er ist 27. Wir haben unser ganzes Leben damit verbracht, darauf zu warten, Mitglied der EU zu werden. Und jetzt haben wir diesen Zug verpasst. Ich denke, es ist nicht allein ein Verlust für die Türkei, auch die EU hat eine große Chance verpasst, Sie hätte der Welt zeigen können, dass sie kein christlicher Klub ist, dass Muslime und Christen zusammenarbeiten können. Dadurch, dass man die Türkei rausgekickt hat, ist sie jetzt leider näher bei Russland und Putin sowie der islamisch-arabischen Welt und hat sich dem Osten statt dem Westen zugewandt. Es hätte ein Win-Win-Situation sein können, jetzt ist es eine Lost-Lost-Situation.
Wann wäre der beste Moment gewesen, die Türkei in die EU aufzunehmen?
In den 70er oder den 90er Jahren, dann würden wir jetzt die 100-Jahr-Feier mit einer anderen Türkei feiern. Leider haben wir diese Gelegenheit verpasst.
In Ihrem Buch benennen Sie zwei fundamentale Faktoren, die verhindert hätten, dass sich die Türkei wirklich modernisieren und demokratisieren konnte. Zum einen die Paranoia, dass das Land zerfallen könnte, also der Konflikt mit den Kurden und der Nationalismus. Zum anderen die Rolle der Religion in der türkischen Gesellschaft, also der Laizismus oder Säkularismus. Sind das auch heute noch die Haupthindernisse für eine Demokratisierung und für den Beitritt zur EU? Und können sie überwunden werden?
Diese beiden Faktoren sind noch immer die wichtigsten Probleme der Türkei. Der Punkt ist tatsächlich folgender: Das Osmanische Reich wurde beherrscht von einem Kalifen, er war der Führer der gesamten islamischen Welt. Und als die türkische Republik entstand, sagte Atatürk, wir sollten diese islamische Ideologie durch etwas Neues ersetzen. Und dieses Neue war, ein Türke zu sein, also Nationalismus statt Islam. Er wollte den Menschen etwas geben, worauf sie stolz sein können. Dann verordnete er den Menschen das Türkischsein, den Nationalismus, wir sind stark. Das löste nicht das Problem mit dem Islam, sondern schuf ein neues Problem mit den Kurden, weil die Kurden sich selbst nicht als Türken ansehen. Jetzt haben wir zwei Probleme: Die Islamisten gingen in den Untergrund und die Kurden begannen zu revoltieren. Die Republik entstand mit diesen beiden Problemen, und nach 100 Jahren haben wir sie noch immer. Islamisten sind an die Macht gekommen, der politische Islam wurde die Regierung in der Türkei, und die kurdische Frage ist das größte Problem der Türkei. Vielleicht hatte Atatürk damals keine andere Wahl, aber die türkische Republik hätte diese Probleme über Jahrzehnte lösen sollen. Die Kurden fühlten sich isoliert und nicht als gleichberechtigte Bürger der türkischen Republik.
Die türkische Republik von heute hat aus den Anfangsjahren unter Atatürk also nur den Nationalismus behalten, der Säkularismus wurde von Erdoğan abgewickelt. Kann man Atatürk und Erdoğan trotzdem irgendwie vergleichen?
Um ehrlich zu sein, würde ich sagen, dass Atatürk ein Revolutionär war -– und Erdoğan ist ein Konterrevolutionär. Atatürk war 15 Jahre an der Macht, Erdoğan schon 21 Jahre. Man kann die beiden als mächtige, charismatische Anführer vergleichen, aber wenn man über ihre Ideologie redet, sind sind der genaue Gegensatz. Atatürk glaubte wirklich an den Säkularimus, Erdoğan ist ein Islamist. Erdoğan hat auch autokratische Tendenzen und will der Anführer sein und die anderen zermalmen. Er will der Sultan sein, den Atatürk zerstört hat.
Um die kurdische Frage zu lösen und den Konflikt zu beenden, welche Möglichkeiten sehen Sie dafür? Erdoğan hatte auch Phasen, in denen er zu einem Dialog bereit schien. Jetzt führt er einen gnadenlosen Kampf gegen die Kurden, bombardiert diese sogar in den Nachbarländern Syrien und Irak.
Für mich gibt es nur eine Lösung: gleiche Bürgerrechte für die Kurden. Sie sehen sich selbst nicht als gleichberechtigte Bürger dieser Republik. Ohne ihnen das Gefühl zu geben, dass sie die gleichen Rechte haben wie alle anderen türkischen Staatsbürger, geht es nicht. Das heißt, sie können leben, wie sie wollen; sie können ihre eigenen Gouverneure wählen; sie können Bücher in ihrer eigenen Sprache lesen, in ihrer eigenen Sprache sprechen und lernen. Alle diese normalen Rechte sollten den Kurden gegeben werden, dann, denke ich, würde es keine Probleme mehr geben. Aber wenn man ihnen diese Rechte nicht gibt, dann fühlen sie sich isoliert, und nationalistische Gefühle kommen auch in der kurdischen Gemeinschaft auf. Und wenn man sie mit türkischem Nationalismus unter Druck setzt, müssen sie sich mit dem kurdischen Nationalismus auseinandersetzen. Demokratie ist die einzige Lösung, soweit ich sehe. In eine neue Verfassung könnte man schreiben, dass alle Bürger gleichberechtigt sind. Was ist daran falsch, ihnen das Recht zu geben, im Bildungssystem die eigene Sprache zu benutzen? Ich sehe darin kein Hindernis.
Und die Angst bzw. Paranoia vor einer Spaltung der Nation?
Die Türkei hat bisher nur militärische Lösungen versucht, um das Problem zu lösen. Wenn Sie einen militärischen Hammer in der Hand halten, ist es gut möglich, dass Sie ein Problem mit Separatismus bekommen. Wenn die türkische Regierung den Kurden nicht die gleichen Rechte gibt und nur mit dem Hammer auf sie einschlägt, dann wollen die Kurden natürlich ihren eigenen Staat. Wenn die Regierung sie also davon abhalten will, einen unabhängigen Staat zu gründen, dann sollte man nicht auf sie einschlagen, sondern die Kurden einladen, gleichberechtigte Bürger und Teil der türkischen Gesellschaft zu sein. Das sollte die richtige Lösung sein. Militärische Operationen sind nicht hilfreich für Demokratisierung, im Gegenteil: Das trägt dazu bei, dass sie sich stärker radikalisieren.
Sie wurden zu einer Strafe von mehr als 27 Jahren Haft verurteilt und leben in Berlin im Exil. Wie fühlt sich das für Sie an, die Republikfeiern und Geschehnisse in der Türkei als Zuschauer aus dem Ausland mitverfolgen zu müssen?
Einerseits fühle ich mich glücklich, weil es ein Privileg ist, unter diesen Bedingungen am Leben zu sein. In den 90er Jahren und danach wurden viele meiner Freunde getötet, einige meiner Kollegen sitzen noch immer im Gefängnis. Daher kann ich mich nicht beklagen, dass ich weg bin. Ich bin frei, ich kann schreiben, ich kann zu Ihnen sprechen und ich kann meine Meinung sagen. Aber die Umstände sind seltsam. Ich gucke mir die 100-Jahr-Feierlichkeiten aus der Ferne an, das ist einerseits traurig, anderseits gibt es wirkliche Feiern erst dann, nachdem die Türkei von Erdoğan befreit ist. Ich denke also nicht, dass ich etwas verpasse.
Wie erklären Sie sich den erneuten Wahlerfolg Erdoğans bei den Wahlen im Mai?
Stellen Sie sich vor, dass er der Sultan der Türkei ist. Er hat die Macht, die Richter zu manipulieren und das Justizsystem zu kontrollieren. Mit den Medien hat er eine riesige Propagandamaschine. Und er hat die Befugnis, seine Rivalen aus dem Politikbetrieb zu verbannen und ins Gefängnis werfen zu lassen, sodass er sich seine Gegenkandidaten selbst aussuchen kann. Und er hat sogar die Gelegenheit und Fähigkeit, die Wahlurnen zu kontrollieren. Polizei, Armee, Parlament, Finanzsektor etc. muss ich gar nicht nennen. Er hat also die volle Macht – und die Opposition hat nicht die Macht zu demonstrieren, wann sie will. HDP-Führer und Bürgermeister sind im Gefängnis, ersetzt durch Bürokraten etc. Unter diesen Bedingungen ist für die Opposition unmöglich, eine Wahl zu gewinnen, in jedem Land. Das sind die Hauptursachen, die Europa verstehen muss. Ich weiß nicht, wie es die Polen geschafft haben. Ich sehe keinen Weg, dass eine Opposition in einer Autokratie die Wahlen gewinnen kann. Wenn es ein Beispiel gibt aus Polen, würde ich das Geheimnis gerne kennenlernen.
War die Opposition vielleicht auch zu schwach und hat Themen der Regierung übernommen? Im Wahlkampf hat sie sehr nationalistische Töne angeschlagen.
Leider hat die Türkei ihre linke Hand verloren, sie wurde vor Jahrzehnten abgetrennt. Die linken Bewegungen haben die politische Arena den Nationalisten und Soft-Sozialdemokraten überlassen. Der wichtigste Anführer der linken Partei HDP, Selahattin Demirtaş, sitzt seit sieben Jahren in Haft. Er hat nichts verbrochen, hielt Reden, sprach auf Konferenzen, und wurde angeklagt, die türkische Republik zerstören zu wollen. Dem Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, der Erdoğans Partei AKP bei den letzten Kommunalwahlen geschlagen hat, wurde praktisch jede politische Tätigkeit untersagt, weil gegen ihn Untersuchungen eingeleitet wurden. Er hätte bei den Präsidentschaftswahlen gegen Erdoğan antreten und vielleicht gewinnen können, nachdem er schon in Istanbul gewonnen hatte, aber dann wurde plötzlich eine Untersuchung eingeleitet und er konnte nicht mehr antreten. Unter diesen Bedingungen kommt eine Gruppe von Leuten rechter, nationalistischer und sozialdemokratischer Parteien zusammen und bildet eine Art Allianz gegen Erdoğan. Es war keine harmonische Verbindung, der einzige gemeinsame Nenner war, gegen Erdoğan zu sein, nicht mehr. Aber sie haben rund 48 Prozent der Stimmen gewonnen, also ist immer noch fast die Hälfte der Bevölkerung gegen Erdoğan. Das gibt uns Hoffnung.
Sie leben in Deutschland im Exil. Was für eine Politik sollte die deutsche Bundesregierung gegenüber dem türkischen Staat verfolgen?
Der Widerstand der Bevölkerung für die Demokratie in der Türkei ist groß. Die Leute riskieren ihr Leben, jeden Tag – Frauen, Journalisten, Gewerkschafter, Jugendliche, Studierende – um die Demokratie und ihren Lebensstil zu verteidigen. Anstatt diese Menschen zu unterstützen, sehen wir eine Grußbotschaft des Bundeskanzleramts gleich nach den Wahlen und eine Einladung für Erdoğan, Deutschland zu besuchen. Er soll im November kommen. Aber keinen direkten Kontakt mit den demokratischen Kräften in der Türkei. Ich kann verstehen, dass Regierungen gute diplomatische Beziehungen unterhalten sollten, aber was ist mit der anderen Seite der Türkei? Erdoğan repräsentiert nicht die ganze Türkei. Die halbe Türkei hasst ihn und will ihn loswerden. Es ist ein zerstrittenes, polarisiertes Land, und die Hälfte des Landes unterstützt die Demokratie. Deutschland sollte diese Kräfte unterstützen anstatt jener, die die Demokratie zerstören. Wenn schon nicht die deutsche Regierung, dann sollten zumindest die deutsche Öffentlichkeit, die deutschen Institutionen, die deutsche Zivilgesellschaft die Rechte und den Kampf der demokratischen Kräfte in der Türkei unterstützen: Frauen- und Jugendorganisation, LGBTQ+-Community, Gewerkschaften, linke Organisationen, Sozialdemokraten. Helft ihnen einfach, unterstützt sie. Das ist der einzige Weg. Ich traue den Regierungen nicht mehr, aber ich kann der Zivilgesellschaft vertrauen.
Can Dündar ist seit 43 Jahren als Journalist für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften tätig. Er produzierte zahlreiche Fernsehdokumentationen, insbesondere über die moderne türkische Geschichte und Kulturanthropologie, und arbeitete als Moderator für mehrere Nachrichtensender. Im August 2016 trat er von seinem Posten als Chefredakteur der Tageszeitung »Cumhuriyet« zurück, nachdem er wegen einer Reportage über die Beteiligung des türkischen Geheimdienstes am Syrien-Krieg inhaftiert worden war. Er wurde im Dezember 2020 in Abwesenheit zu 27 Jahren Haft verurteilt. 2016 gründete er in Berlin #ÖZGÜRÜZRadio (WeAreFree). Er hat Dokumentarfilme für Arte, ZDF und DW gedreht und mehr als 40 Bücher geschrieben, von denen einige auf Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Albanisch, Arabisch und Chinesisch erschienen sind. Sein jüngstes Buch ist kürzlich im Galiani-Verlag erschienen und behandelt auf sehr persönliche Weise die letzten 100 Jahre türkischer Geschichte: »Die rissige Brücke über den Bosporus. Ein Jahrhundert Türkische Republik und der Westen«.
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