• Kultur
  • Internationales Theater-Festival

Kosovo Theatre Showcase 2023: Den Krisen trotzen

Das Kosovo Theatre Showcase 2023 zeigte trotz neuerlicher politischer Spannungen Inszenierungen zu Krieg, Unterdrückung und Konfliktlösung

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Kamera als Gegenüber: Überwachte und Überwacher
Die Kamera als Gegenüber: Überwachte und Überwacher

Am Leben bleiben oder menschlich bleiben – das war die Kernfrage einer Inszenierung von George Orwells dystopischem Roman »1984« zur Eröffnung des Kosovo Theatre Showcase 2023. Das Festival hat bereits Tradition: Seit 2018 werden dort aktuelle Produktionen freier Akteure wie auch fester Häuser aus dem Kosovo und der gesamten Balkanregion präsentiert. In diesem Jahr war das Festival noch internationaler als sonst, jedenfalls auf der Seite der Zuschauenden. Denn es war angebunden an die Karawane des IETM (Informal European Theatre Meeting), eines internationalen Theaterverbands mit 542 Mitgliedern aus 62 Ländern.

»1984« passt in die Zeit. Überwachung ist allgegenwärtig, Anpassung findet in den zahlreichen gesellschaftlichen Blasen statt. Die Inszenierung des vom Nationaltheater Kosovo engagierten französischen Regisseurs Igor Mendjisky betonte aber vor allem die Bedeutung alternativer Wahrheiten, des Umschreibens der Geschichte: So formt die neue Vergangenheit die Wahrnehmung der Gegenwart auf eine Weise, die einer Zukunft im Sinne des jeweils herrschenden Systems zuträglich ist.

Die inhaltlich wichtigste Produktion war »Negotiating Peace«. Der kosovarische Dramatiker Jeton Neziraj rekapitulierte auf einer Bühne, die an ein Film-Set erinnerte, Strukturen und Episoden von Friedensverhandlungen. Basis waren vor allem die Verhandlungen, die zum Abkommen in Dayton 1995 zwischen Serbien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina führten. »Als wir für die Produktion in Sarajewo arbeiteten, sagten uns die Leute, dass Dayton tatsächlich den Krieg in Bosnien beendete und dass das ein großer Erfolg war, weil das tägliche Töten aufhörte. Die Implementierung des Friedensvertrags stellte sich dann aber als sehr schwierig heraus«, erzählte Neziraj »nd«. Im Kosovo – und auch in Serbien – sei langes Verhandeln zum Nationalsport geworden. »Das belastet die Gesellschaft. Denn diese Energien können nicht für die Lösung anderer drängender Probleme eingesetzt werden. Deshalb wollten wir auf verschiedene Friedensverhandlungen blicken und eine Parabel kreieren, um Konflikte und Konfliktbewältigung auch in anderen Kontexten, über Kosovo und Europa hinaus, besser zu verstehen«, erklärte er »nd«.

Der Big Brother sorgt für betrübte Gesichter.
Der Big Brother sorgt für betrübte Gesichter.

Sein Stück, inszeniert von Blerta Neziraj mit einem Ensemble aus Schauspielern unter anderem aus Albanien, dem Kosovo, Bosnien, Norwegen und der Ukraine, liefert zahlreiche Einblicke in den Backstage-Bereich der Unterhändler. Dazu gehören Klagen über die Sitzordnung im Verhandlungsraum oder die Ausstattung des Hotelzimmers. Die Serviettendiplomatie wird gezeigt, wenn beim Abendessen an den verschiedenen Tischen neue Grenzverläufe auf die Servietten gezeichnet werden und der Unterhändler mit immer neuen Versionen von Tisch zu Tisch eilt. Es gibt aber auch Szenen, in denen sich die Unterhändler der verfeindeten Seiten abseits der Kameras persönlich sehr nahekommen, nur um am nächsten Morgen vor der Weltpresse wieder das Spiel der unversöhnlichen Feinde zu inszenieren. »Negotiating Peace« wird im November auch beim Festival Euroscene in Leipzig sowie im Pumpenhaus Münster gastieren.

Einen großen Bogen von den Kriegen in der Antike zu denen der Gegenwart schlug die »Antigone«-Inszenierung des Theaters von Gjakova im Südwesten des Kosovo. Die Stadt wurde 1999 im Krieg schwer beschädigt. Zahlreiche Menschen verschwanden. Auf der Bühne erinnern Porträtbilder und ein gedeckter Mittagstisch an vier Brüder und deren Vater. Sie stammen aus Gjakova und kehrten niemals aus serbischer Haft zurück. Ihre Mutter und Witwe, die in der Stadt ein privates Museum der Erinnerung betreibt, konnte ihre Angehörigen nicht begraben. So wird die antike Tragödie über die junge Frau, die ihren Bruder begraben will, obwohl er den Krieg in die Stadt bringen wollte, wieder aktuell.

Das Festival mit seinen neun Inszenierungen von Produktionspartnern aus elf Ländern fand selbst in einer Situation der Anspannung statt. Die Attacken im September 2023 im Norden des Kosovo führten dazu, dass vor allem serbische Gäste die geplante Reise absagten. Im langen Prozess der Annäherung, den die Theatermacher von Qendra Multimedia betreiben, ist das ein Rückschlag. Dass das Showcase dennoch stattfand und IETM die Karawane der internationalen Theatermacher in den Kosovo brachte, ist ein Zeichen der Hoffnung. »Wenn wir uns nur auf die Schlagzeilen westlicher Medien verlassen würden und nicht darauf hörten, was unsere lokalen Quellen sagen, dann würden wir, um ehrlich zu sein, gar nichts mehr unternehmen können«, sagte Ása Richardsdóttir, Generalsekretärin von IETM. Theater muss sich weiter Konflikten stellen, nicht nur in der Bearbeitung von Themen aus Kriegs- und Konfliktzonen, sondern auch mit Unternehmungen genau dort.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.