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Psychisch krank, Arbeit sei Dank
In Berlin und Brandenburg gibt es einen Trend zu mehr Fehlzeiten aufgrund von psychischen Erkrankungen. Die Arbeit selbst ist eine gewichtige Ursache
Wer krank ist, sollte nicht zur Arbeit gehen, stattdessen einen Arzt aufsuchen und sich beim Chef gegebenenfalls arbeitsunfähig melden. Die Arbeit selber kann hingegen ihrerseits krank machen.
Dass hierbei die psychische Gesundheit eine besondere Rolle einnimmt, darauf deuten Versichertendaten der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) hin. Im Erhebungszeitraum 2016 bis 2022 sei die durchschnittliche Fehlzeit je psychisch erkrankter Person in Berlin von 10 auf 23 Tage und damit um 123 Prozent gestiegen. In Brandenburg habe sich die attestierte Arbeitsunfähigkeit im gleichen Zeitraum im Schnitt mehr als verdreifacht: von 20 auf 62 Tage. Das ist das Ergebnis des Fehlzeiten-Reports für 2023 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (Wido).
Johanna Baumgardt, Forschungsleiterin der Studie, erklärte in einer jüngst veröffentlichten Pressemeldung, dass psychische Erkrankungen mit besonders langen Erkrankungszeiten einhergingen. Die allgemeine für alle Diagnosen festgestellte Erkrankungszeit lag für Berlin im Schnitt bei elf Tagen, für Brandenburg bei 14 Tagen.
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Den allgemeinen Anstieg der Fehlzeiten auf einen »historischen Höchststand« in den letzten Jahren führte ein Sprecher der AOK, der seine Antworten mit dem Mitherausgeber des Fehlzeiten-Reports, Helmut Schröder vom Wido, abgestimmt habe, gegenüber »nd« auf die Zunahme von Atemwegserkrankungen in Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie zurück.
Die Entwicklung der psychischen Erkrankungen, erklärte der Sprecher, sei jedoch ein langfristiger Trend. Die Ursachen würden gesellschaftlich kontrovers diskutiert. Einerseits würde als Begründung für den Trend eine bessere Dokumentation durch gestiegenes Bewusstsein der Ärzt*innen und einer größeren gesellschaftlichen Akzeptanz angeführt.
Danach nannte der AOK-Sprecher einen ganzen Komplex von auf die Arbeitswelt bezogenen Ursachen: die »Zunahme belastender Arbeitsbedingungen in der modernen Arbeitswelt«, »die Transformation von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft«, die wachsende Verbreitung von »modernen Kommunikationstechnologien«, »die zunehmende Eigenverantwortung für Ablauf und Erfolg von Arbeitsprozessen«, »die Beschleunigung sämtlicher Arbeitsprozesse bei steigender Komplexität« und »die Ausbreitung beruflicher Unsicherheit angesichts zunehmend unplanbarer Berufsbiografien«.
Ronny Kretschmer kommt zu einer ganz ähnlichen Einschätzung. Der gesundheitspolitische Sprecher der Linksfraktion im Brandenburger Landtag meint zu »nd«, dass Erkrankungen der Psyche auch im Vergleich zu jenen des Bewegungsapparats seit Jahren zunehmen würden. Kretschmer stellt gleichermaßen die Arbeit als Feld von Ursachen für psychische Erkrankungen heraus. Er spricht von »Arbeitsverdichtung und Stress im Arbeitsleben«, die diese Entwicklung permanent verstärken würden.
Eine repräsentative Beschäftigtenumfrage des Wido habe ergeben, »dass fast alle Befragten über psychische Beschwerden«, »die durch die Arbeit entstanden sind«, berichtet hätten. Diese Zahlen seien zuletzt zwar gesunken, würden aber noch immer über dem Stand von vor der Covid-19-Pandemie liegen, teilte der AOK-Sprecher mit. Am häufigsten hätten die Befragten »Erschöpfung (78 Prozent), Wut und Verärgerung (75 Prozent) und Lustlosigkeit (66 Prozent)« als Beschwerden genannt.
Die häufigsten psychischen Erkrankungen 2022 seien laut den Daten der AOK »Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen« und »Depressive Episoden« gewesen. Auf sie unterfielen 2,5 beziehungsweise 2,9 Prozent aller gemeldeten Arbeitsunfähigkeitstage.
Entsprechend der Erkenntnisse des Reports plädiert die AOK für den »Ausbau von niedrigschwelligen, nicht-stigmatisierenden Angeboten zur Stärkung der seelischen Gesundheit sowie zur Prävention und zur Früherkennung psychischer Erkrankungen«.
Auch Ronny Kretschmer von den Brandenburger Linken hält betriebliche, durch die Krankenkassen geförderte Präventivangebote für wichtig. Es könne auch nicht sein, dass Erkrankte lange um Kuren und anderweitige Reha-Maßnahmen kämpfen müssten.
Dass aber die Erkrankungen auch über die Umkehr der genannten gesellschaftlichen Entwicklungen adressiert werden können, darauf deuten Kretschmers Vorschläge nach der Gestaltung der Rahmenbedingungen, namentlich »neue Arbeitszeitmodelle, wie die Viertagewoche«. Hier könne die Landesregierung für ihre 40 000 Beschäftigten vorangehen. Auch die Initiativen der Gewerkschaften für Entlastungstarifverträge zeigten die richtige Richtung.
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