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Sprache: Lauter falsche Nazis
Wo alle Nazis sind, ist keiner mehr Nazi – Zeit für eine Begriffsklärung
Der Führer hätte höhnisch gelacht. Drei biedere Männer – Friedrich Merz, Boris Palmer, Heino – wurden schon öffentlich als »Nazi« diffamiert. »Das sollen Nationalsozialisten sein?«, hätte Hitler bestimmt ausgerufen. Und was hätte er von Polizisten gehalten, die sich als »Nazis« beschimpfen lassen? Vermutlich hätte er sie als Witzfiguren abgetan. Vor allem aber hätte Hitler sich gefreut, dass gut 90 Jahre nach der Machtübergabe der »Nazi« wieder in aller Munde ist. Und das liegt ausnahmsweise nicht an der AfD, sondern an uns, den braven und leider etwas ungebildeten Deutschen, die bis heute nicht verstehen, was ihre Opas und Uropas damals getan haben.
Es ist ja auch nicht einfach, in jenem mörderischen Irrsinn, der sich Menschheitsgeschichte nennt, den Überblick zu behalten. Für Massaker fand sich immer ein Anlass. Krieg war seit jeher der Freifahrtschein für Morde, Plünderungen und Vergewaltigungen. Mit dem Aufkommen der Nationalstaaten im 18. und 19. Jahrhundert wurde es nicht besser. Sprachliche oder religiöse Minderheiten standen vor der Alternative, ihre Identität aufzugeben oder auszuwandern. Notfalls half der Staat nach. Im Ersten Weltkrieg verschleppten die Türken Hunderttausende von Armeniern in die Wüste – und damit in den Tod. Doch ein wichtiges Detail muss erwähnt werden: Tausende von Frauen und Kindern überlebten dadurch, dass sie in muslimischen Familien untergebracht und zum Glaubenswechsel gezwungen wurden.
Diese Option stand Juden im Dritten Reich nicht offen. Auch »jüdische Mischlinge« mussten befürchten, in die Deportationsmaschinerie zu geraten. So wurden im besetzten Osteuropa »Vierteljuden« als »Volljuden« eingestuft – der sichere Tod. Und noch etwas unterschied diese mörderische Verfolgung von früheren Vernichtungsfeldzügen: Sie war bis ins Detail geplant und von einem Verwaltungsapparat koordiniert. Dahinter stand eine moderne Logistik. Nie zuvor in der Geschichte lief Massenmord so systematisch ab – wie in einer Just-in-Time-Lieferkette.
So weit ging selbst Stalin nicht. Die Lebensbedingungen in seinen Arbeitslagern waren bestialisch. Man schätzt, dass phasenweise jeder Vierte an Unterernährung oder Krankheit starb. Doch war der Tod nicht das Ziel des Gulag. Die dort inhaftierten »Staatsfeinde« und »asozialen Elemente« bauten Kanäle und Bahnstrecken. Das unterschied den russischen Gulag von jenen deutschen KZs, die mit Gaskammern ausgestattet waren – Letztere waren keine Arbeits-, sondern Vernichtungslager. Es war den rassistischen Deutschen also wichtiger, Juden zu ermorden als sie ökonomisch auszubeuten. Jetzt wissen Sie, was ein Nazi ist.
Aber Jan Böhmermann, Jan Delay und zu viele andere wissen es nicht. Sonst würde der Begriff nicht derart inflationär benutzt. Vordergründig ist »Nazi« heute nur ein neues Synonym für »Arschloch«. Früher wurden Polizisten als »Bullenschweine« tituliert. Ein Wort, das sich einreiht in eine lange Kette von Beleidigungen, in denen Menschen zu Tieren mutieren. So wird der Schiedsrichter zur »blinden Sau«, der intrigante Kollege zur »miesen kleinen Ratte« und die nervige Bekannte zur »doofen Schnepfe«. Nett ist keiner der Ausdrücke, aber es gibt schlimmere. Zum Beispiel »Nazi«. Wer dieses Wort benutzt, geht einen Schritt weiter: Mit dem »Nazi« verbietet sich eigentlich jedes Gespräch. Ein Nazi war – siehe oben – ein rassistischer Massenmörder. Und mit Massenmördern spricht man nicht.
Wimmelt es also in Deutschland von rassistischen Schläfern? Von Leuten, die nach außen ein unauffälliges Leben führen und nur darauf warten, dass sich der Massenmörder in ihnen endlich austoben darf? Das nämlich suggerieren jene, die ihren Mitmenschen das Etikett »Nazi« verpassen. Sie wollen damit andeuten, dass alle Polizisten davon träumen, Migranten zu ermorden. Und dass all die Biedermänner, die auf die Klimakleber, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und die Gendersternchen schimpfen, Brandstifter sind – also irgendwie Nazis.
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Das »irgendwie« ist wichtig. Natürlich weiß auch ein Jan Böhmermann, dass es zwischen Christdemokraten und Nationalsozialisten deutliche Unterschiede gibt. Das hält ihn aber nicht davon ab, CDU-Politiker als »Nazis mit Substanz« zu bezeichnen und sie so auf eine Stufe mit Joseph Goebbels, Heinrich Himmler, Albert Speer und anderen faschistischen Akademikern – also Nazis mit Substanz – zu stellen. Ein infamer Vergleich. Der Aufschrei der Öffentlichkeit hielt sich dennoch in Grenzen. »Nazi« ist hierzulande lange schon kein präzise definierter Begriff mehr, sondern ein schwammiges Gefühlswort. Jemand ist Nazi, weil man es so empfindet. Irgendwie.
Und das ist – zurück zu den Tieren – eine Sauerei. Wenn Polizisten und meckernde Bürger irgendwie das Gleiche sind wie KZ-Kommandanten und SS-Sturmbannführer, dann ist alles einerlei. Dann ist jeder ein Nazi und damit keiner. Wenigstens die Landeskriminalämter sind sich der Schwere dieses Begriffs noch bewusst. Als die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes bei einer Demonstration ein Plakat mit der Aufschrift »Höcke ist ein Nazi« hochhielt, wurden die Ermittler wegen Verdachts auf »üble Nachrede gegen Personen des politischen Lebens« aktiv. Sie machten sich die Mühe, Höckes Pressemitteilungen zu studieren und kamen zu dem Schluss, dass der Spruch keine Diffamierung sei, sondern »ein an Tatsachen anknüpfendes Werturteil«.
Doch so gewissenhaft gehen die wenigsten zu Werke. Üble Nachrede hat Hochkonjunktur. Meinungen, die früher als »konservativ« oder »reaktionär« durchgewunken wurden, ziehen heute den »Nazi«-Vorwurf nach sich. Das Ganze erinnert an den Extremismuswahn in der BRD der 70er Jahre. Nur mit umgekehrten Vorzeichen. Seinerzeit liefen westdeutsche Linke Gefahr, als RAF-Sympathisanten zu gelten, wenn sie das Vorgehen des Staates bei der Terrorismusbekämpfung dezent kritisierten.
Was also tun? Sich die 80er zum Vorbild zu nehmen. Damals wurde erst verbal und dann real abgerüstet. In diesem Sinne: Bitte mehr Sprachsensibilität! Das Wort »Nazi« sollte jenen vorbehalten bleiben, die sich – wie es die Staatsanwaltschaft Frankfurt formuliert – »in eindeutig nationalistisch-völkischer Weise mit rassistischen Anklängen und unter Hervorhebung eines natürlichen Führungsanspruchs der Deutschen« äußern. Für alle anderen gibt es ein reiches Repertoire an tierisch guten Beleidigungen.
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