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»Das Sklavenschiff«: Die schwimmende Fabrik des Kapitalismus
Marcus Rediker schreibt die Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels von dort, wo er sich zum größten Teil abspielte – auf hoher See
Als Olaudah Equiano mit elf Jahren an der afrikanischen Küste das erste Mal ein Sklavenschiff sah, war er von »Erstaunen« und »Schrecken« erfüllt. Lange sollte er keine Worte finden, diese auszudrücken. Erst 1789, nach Versklavung, Befreiung, einem Leben als Seemann und schließlich der Entwicklung zu einer wichtigen Figur in der britischen Abolitionsbewegung, schrieb er über den Gestank, die Schmerzen, die Brutalität und die vielen Methoden, das Schiff zu einer unentrinnbaren Hölle zu machen.
Equiano ist mit seiner Autobiografie »Merkwürdige Lebensgeschichte des Sklaven Olaudah Equiano« einer der bekanntesten Zeugen der Erfahrung der Versklavten, aber bei weitem nicht der Einzige. In »Das Sklavenschiff. Eine Menschheitsgeschichte« unternimmt der US-amerikanische Historiker Marcus Rediker eine Rekonstruktion der sogenannten Middle Passage, der Routen über den Atlantik, auf denen die Versklavten in die Amerikas transportiert wurden. Ins Zentrum seiner Abhandlung über den Schrecken der Sklaverei stellt er dabei die Schiffe.
Produktion von Versklavung
Die Sklavenschiffe waren mit speziellen Strukturen und Technologien ausgerüstet, um ihre zu Waren gemachte menschliche Fracht zu transportieren. Menschen für 16 Stunden und mehr am Tag unter Deck anzuketten, das Management von Krankheiten, die unvermeidlich auf der Fahrt ausbrachen, vor allem aber die Kontrolle von Widerstand, Flucht- und Selbstmordversuchen mussten mit eigenen Schiffsärzten, einer bewaffneten Besatzung, Barrieren, Netzen und kleinen Kanonen ermöglicht werden. All das erforderte eine spezielle Schiffsarchitektur sowie entsprechende weitere Technologien (wie Eisenketten und Drehbassen, ein kleines drehbares Geschütz), eine bestimmte Besatzung (mehr als gewöhnlich, da auch viele Seeleute durch Krankheiten oder gewaltsamen Widerstand starben) und eine bestimmte Routine während der Fahrt. Redikers These ist, dass das Sklavenschiff gleichzeitig ein Gefängnis und eine Fabrik war – eine Fabrik, in der die Seeleute Versklavte »produzierten« und damit die Arbeitskraft, die den globalen Kapitalismus ab dem 18. Jahrhundert antrieb.
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Rediker wurde im Jahr 2000 bekannt mit dem Buch »Die vielköpfige Hydra«, seiner gemeinsam mit Peter Linebaugh verfassten »Geschichte des revolutionären Atlantiks«. Die beiden Historiker zeichneten darin detailliert nach, wie sich Seeleute, Piraten, Versklavte und Enteignete in einer Zeit, in der europäische Herrschende ihren Griff auf die Welt über brutale Kolonisierungsprozesse etablierten, in eben jenem Raum gemeinsam wehrten und dabei immer wieder neue, fragile Solidaritäten entwickelten. Der sich globalisierende Kapitalismus, so zeigten sie, musste sich gegen massiven Widerstand durchsetzen. Auch die Opfer des Sklavenschiffs, der besonderen »Fabrik« des Kapitalismus, wehrten sich mit allen Mitteln. In »Das Sklavenschiff« fokussiert Rediker diesen besonderen Ort, in dem sich die Widersprüche aufs Brutalste verdichteten.
Geschichte von unten
Im englischen Original ist das Buch bereits 2007 erschienen. Seitdem hat sich die historische Forschung zum atlantischen Sklaverei-Komplex und zur Geschichte der Sklaverei insgesamt wesentlich weiterentwickelt. Dennoch bleibt Redikers Buch ein wichtiges Werk in der Forschung und über diese hinaus. Das liegt erstens an seinem Ansatz, diese Geschichte als eine Geschichte »von unten« zu schreiben – wobei »von unten« eben nicht nur die Versklavten meint, sondern auch die Seeleute als Arbeitende in der »Fabrik« des Sklavenschiffs. Rediker schreibt für ein breites Publikum und macht in detaillierten Nacherzählungen die Perspektiven der einzelnen, diesem System unterworfenen Menschen nachvollziehbar. Dabei, so sei gewarnt, kommt auch die ungeheure Grausamkeit dessen, was sich auf Sklavenschiffen abspielte, detailliert zur Sprache.
Zweitens stellt sich Redikers These des Sklavenschiffs als »Fabrik« einem anderen Klassiker der Sklavereigeschichte zur Seite: Edgar Tristram Thompsons »The Plantation«. Thompson stellte in seinem Werk bereits 1932 die zentrale Rolle der Plantagen im Süden der USA in einer globalen Ökonomie heraus und unternahm auch eine historische Soziologie der Plantage, in der er sie – entgegen einer vorherrschenden Sicht, die den Süden der USA als »rückständig« sah – als Motor einer industrialisierten Agrarökonomie und des globalen Kapitalismus beschrieb. Plantagen waren Fabriken, die Rohstoffe (Baumwolle, Zucker, Tabak) für den europäischen Markt herstellten und dazu versklavte Menschen als »Rohstoff« Arbeitskraft importierten. Rediker beschreibt die Schiffe selbst als eigene Fabriken, die diese Arbeitskraft für die Plantagen nicht nur – als »Rohstoff« entmenschlicht – transportierten, sondern sie regelrecht und mit brutaler Gewalt produzierten. Der Wert einer versklavten Person verdoppelte sich zwischen dem Ankauf an der westafrikanischen Küste und dem Verkauf in den Sklavenmärkten der Karibik, Lateinamerikas und der USA.
Disziplin und Aufstand
Nicht nur die Ware – die versklavten Menschen – waren dabei ständigen Grausamkeiten ausgesetzt. Auch die Mannschaft wurde mit äußerster Gewalt zu Disziplin und Arbeit gezwungen. Um Rebellionen von Versklavten wie auch den Mannschaften zu verhindern, wurde eine strikte Hierarchie gewaltsam aufrechterhalten. Kapitäne waren die unwidersprochenen Herrscher. Sie agierten dabei als »Handwerker« mit technischem Wissen über ihr Schiff und die Natur (Winde, Strömungen und so weiter), als multikulturelle Kaufleute, die im Auftrag der britischen Sklavenhändler Kauf und Verkauf der menschlichen Ware in unterschiedlichen Sprachen und Kulturen regelten, als Chefs einer Mannschaft von Lohnarbeitern und schließlich als Aufseher über ein schwimmendes Gefängnis. Die meisten Seeleute waren sich bewusst, was es bedeutete, auf der »gewaltigen Maschine« anzuheuern, und wurden (durch Schulden, als Ersatz für einen Gefängnisaufenthalt oder durch »Pressen« – mit Tricks, Betrunkenmachen und Gewalt) gezwungen.
Die Versklavten wiederum waren all diesen Schrecken ungeschützt ausgesetzt und durchlitten Unvorstellbares. Das heißt aber nicht, dass sie nicht auf vielfältige Arten und Weisen Widerstand leisteten. Nicht nur kamen ständig Aufstände und alle Arten individuellen Widerstands auf Schiffen vor, auch schweißten sich die ihrer geographischen und kulturellen Heimat Entrissenen oft zu neuen Gemeinschaften zusammen. Trotz der Sprachenvielfalt Westafrikas konnten sich Versklavte nämlich verständigen: Viele Afrikaner sprachen mehrere Sprachen und mit zunehmendem Handel in der Region entwickelten sich »Pidgin«- beziehungsweise »Seesprachen«. Auch Gesang (obwohl oft von der Mannschaft als Aktivität erzwungen) half, Leiden und Protest auszudrücken oder Menschen aus der eigenen Kultur – teils sogar Verwandte – unter Deck wiederzufinden. Die geknüpften Verbindungen reichten besonders bei den Kindern bis zu neuen Verwandtschaftsbeziehungen; sie begannen, einzelne Erwachsene »Onkel« und »Tante« zu nennen. Um so schlimmer, wenn sie bei der Ankunft wieder auseinandergerissen wurden.
Das Drama Kapitalismus
Rediker vollzieht in mehreren Kapiteln die Reisen von Sklavenschiffen nach, etwa aus der Perspektive des versklavten Olaudah Equiano, des Seemanns James Field Starfield oder des Kapitäns John Newton. Diese Quellen nutzt er zu einer »dichten Beschreibung«, vor deren Hintergrund er eine Sozialgeschichte des Sklavenschiffs und seiner Rolle im transatlantischen Sklavenhandel entwickelt. Die Erzählungen bekommen bei Rediker viel Raum, er systematisiert aber auch immer wieder das Beschriebene und macht deutlich, dass die Schrecken, die sich auf den Sklavenschiffen ereigneten, Resultat von Entscheidungen waren, die ganz woanders getroffen wurden. Das große Drama, in dem sie sich abspielten, war der Aufstieg des Kapitalismus und seine, wie Marx es beschrieb, »Jagd über die ganze Erdkugel«.
Marcus Rediker: Das Sklavenschiff.
Eine Menschheitsgeschichte.
Assoziation A 2023, 480 S., br., 24 €.
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