Ministerpräsident Ramelow: Politik ist ein Marathon, kein Sprint

Bodo Ramelow über Arbeiterregierungen vor 100 Jahren, rechte Gefahren sowie linke Stärken

»Wer sich die Entwicklung der Weimarer Demokratie anschaut, der kann lernen, was passiert, wenn es extrem rechten Akteuren gelingt, sich, mit dem Mäntelchen der Bürgerlichkeit bedeckt, salonfähig zu machen«, sagt Bodo Ramelow.
»Wer sich die Entwicklung der Weimarer Demokratie anschaut, der kann lernen, was passiert, wenn es extrem rechten Akteuren gelingt, sich, mit dem Mäntelchen der Bürgerlichkeit bedeckt, salonfähig zu machen«, sagt Bodo Ramelow.

Herr Ramelow, 1923 war ein äußerst dramatisches Jahr: Vor 100 Jahren kam es in Sachsen und Thüringen zu Regierungskoalitionen von SPD und KPD, die mit dem Einmarsch der Reichswehr verfassungswidrig aufgelöst wurden. Kurz darauf wollte Hitler mit seinen Anhängern am 9. November 1923 Mussolinis »Marsch auf Rom« mit einem Marsch gen Berlin kopieren. Die Arbeiterregierungen hatten sich vor allem auch als antifaschistische Abwehr gegen die an Einfluss gewinnenden Rechtsextremisten verstanden. Sehen Sie die von Ihnen geführte Koalition in deren Tradition – als Bollwerk gegen Rechts wie auch als Interessenvertreterin der Arbeiterschaft?

Grundsätzlich gehe ich mit historischen Reminiszenzen sehr behutsam um. Die Situation des Jahres 1923 – wir denken an die krisenhaften Entwicklungen, die ihre Höhepunkte in Hyperinflation, Ruhrbesetzung und schließlich dem Hitlerputsch fanden – ist mit der des Jahres 2023 nicht im Entferntesten identisch. Ebenso wenig wie die Verfasstheit und programmatische Aufstellung der seinerzeit koalierenden Parteien mit denen der heute in Thüringen koalierenden Kräfte.

Auch Ihre zweite Teilfrage hebt ab auf Begrifflichkeiten und Konstellationen, die anno 1923 ihren Ursprung haben und auch dieser konkreten historischen Situation vorbehalten bleiben sollten. Wenn »Arbeiterregierung« heißt, dass wir in Thüringen für gute Arbeitsbedingungen, faire Löhne und innerbetriebliche Demokratie kämpfen, dann kann man diese Begrifflichkeit gern verwenden. Ich sage aber auch: Ich bin der Ministerpräsident aller Thüringerinnen und Thüringer. Und zu ihnen gehören genauso unsere prosperierenden Unternehmen, die ich gern als »hidden champions« bezeichne, weil sie in vielen Bereichen Weltmarktführer sind und das vielen gar nicht bewusst ist. Mitunter bin ich geneigt zu sagen: Innovativer und verantwortungsvoller Unternehmergeist reimt sich auf gute Arbeitsplätze.

Probleme sehe ich aber in der Gegenwart noch an einer ganz anderen Stelle: Wenn der heimliche Strippenzieher der AfD, Björn Höcke, sagt, die EU müsse sterben, dann sollten unsere Unternehmer einmal gründlicher mit ihren Belegschaften darüber sprechen, wie sehr diese Forderung nach der Zerstörung der EU unsere Betriebe von den europäischen Märkten vertreiben würde. Nach der Wende 1989/90 war der Markt im Westen verschlossen und die Thüringer Unternehmen haben begonnen, sich den europäischen Markt zu erschließen. Nun möchte Herr Höcke die Ressentiments gegen Europa in Stimmen umwandeln und einsammeln. Aber das bedeutet einen tiefen Schaden für Thüringen. Da muss man konkret ansetzen. Sein Kampf um Macht ist verbunden mit der Schädigung Thüringer Interessen. Ihm ist das egal, mir nicht. Viele Sozialprojekte in Thüringen werden mit europäischem Geld finanziert. Ich bin dafür nicht nur dankbar, sondern nenne es auch aktive europäische Solidarität.

Interview

Bodo Ramelow, Jg. 1956, ist seit 2014 Ministerpräsident des Freistaates Thüringen. Anlässlich der Zerschlagung der Arbeiterregierung in Thüringen, einer Koalition von SPD und KPD vor 100 Jahren sowie der Bedrohung der ersten deutschen Demokratie durch den Hitler-Ludendorff-Putsch am 9. November 1923 befragte »nd« den Linkspolitiker nach Lehren für heute.

Die Freien Wähler gibt es auch in Thüringen. Deren Vorsitzender in Bayern, Hubert Aiwanger, der sich – gelinde gesagt – äußerst fragwürdig zu einem antisemitischen Flugblatt aus seiner Jugendzeit verhielt, verkündete, auch in Berlin einziehen zu wollen. Wem kommen da nicht Assoziationen zum Hitler-Ludendorff-Putsch?

Erst einmal vorweg: Freie Wähler und NSDAP – wenn auch nur implizit – inhaltlich oder strategisch einander anzunähern, halte ich für verfehlt. Darüber hinaus bin ich auch hier zurückhaltend. Eine plumpe Parallelisierung der Jahre 1923 und 2023 wäre völlig blind für die konkreten historischen Rahmenbedingungen. Dass sich mit der Reichsexekution gegen Thüringen in der mittleren historischen Dauer ein Weg abzuzeichnen begann, der schließlich zu Hitler und den schwärzesten Jahren unserer Geschichte – gipfelnd in der Ermordung von sechs Millionen Juden, Sinti und Roma und Kranken – führte, halte ich für durchaus argumentierbar, gleichwohl der historische Prozess immer offen war und ist – weil menschgemacht.

Die Unterschiede zu heute sind gewaltig. Und dennoch sage ich: Wer sich die Entwicklung der Weimarer Demokratie anschaut, der kann lernen, was passiert, wenn es extrem rechten Akteuren gelingt, sich, mit dem Mäntelchen der Bürgerlichkeit bedeckt, salonfähig zu machen. Das beobachten wir heute dort, wo die AfD in die Parlamente einzieht und sich anschickt, den Parlamentarismus lächerlich oder verächtlich zu machen. Diese Strategie hat in der Tat eine historische Genese, die wir in den 1920er und 1930er Jahren in anderer Form bereits einmal beobachten konnten.

Ein anderer, spezifisch thüringischer historischer Fingerzeig sei mir noch gestattet: 1924 ließ sich in Thüringen der sogenannte »Ordnungsbund« – ein Zusammenschluss aller konservativen und auch extrem rechten Parteien – von der sogenannten »Vereinigten Völkischen Liste« dulden, um so die rot-rot-rote Regierung zu verhindern. Der Preis für diese Duldung war beträchtlich: Die NSDAP wurde in Thüringen wieder zugelassen, man versuchte jüdische Beamte aus ihren Ämtern zu drängen und vertrieb das Bauhaus aus Weimar. Thüringen wurde zum Vorposten des Aufstiegs der NSDAP.

Das heißt: Listenzusammenschlüsse verschiedenster Kräfte können in Thüringen das sprichwörtliche Zünglein an der Waage sein. Wenn ich dann höre, dass die »Bürger für Thüringen«, die »Freien Wähler« und die sogenannte »Werte Union« sich anschicken, für die Landtagswahl 2024 eine solche Liste zu bilden, komme ich nicht umhin, manche historische Parallele zumindest zu ahnen – bei gleichzeitigem Erodieren des bürgerlichen Lagers. Denn machen wir uns klar: Das, was beispielsweise ein Hans-Georg Maaßen fordert, ist nicht bürgerlich oder konservativ.

In Sachsen wie Thüringen kann die AfD mit 30 Prozent der Stimmen bei den Landtagswahlen im nächsten Jahr rechnen. Worin sehen Sie die Ursache hierfür?

Die AfD funktioniert wie ein Staubsauger. Sie saugt Frust – nachvollziehbaren, wie nicht nachvollziehbaren – auf, gießt ihn in antisemitische, rassistische und andere Ressentiments und potenziert ihn so. Wenn man so will: Es ist ein Teufelskreis. Aber die Ursachen sind natürlich vielfältiger. Sie haben nicht zuletzt auch mit tief sitzenden Unsicherheitserfahrungen in einer Gegenwart zu tun, in der man das Gefühl hat, dass jeden Tag alles anders sein kann.

Was ist zu tun? Die viel beschworenen Brandmauern scheinen nicht den gebotenen Schutz der Demokratie gegen demokratiefeindliche Kräfte zu bieten.

Zunächst einmal müssen wir die Realität anerkennen, dass ein – auch stimmen- und lautstarker – Rechtsextremismus, wie wir ihn seit Jahren in anderen europäischen Ländern sehen, auch in Deutschland angekommen ist. Und man muss die AfD zur Kenntlichkeit entstellen: Sie ist eine antidemokratische Partei, die außer Geschrei für die Sorgen der Menschen keine Lösungen anzubieten hat und überdies unsere Erinnerungskultur mit Füßen tritt. Das heißt für mich ganz konkret im kommenden Jahr in einen Wahlkampf zu gehen, in dem ich den Wählerinnen und Wählern ein Angebot für eine Politik machen will, die niemanden zurücklässt und Lösungen für berechtigte Sorgen anbietet.

Gleichzeitig sage ich: Jeder, der mich kennt, weiß, dass ich ein debattenfreudiger Mensch bin und auch die deutliche politische Aussprache nicht scheue. Eine Grenze ist allerdings dort erreicht, wo der Nationalsozialismus verharmlost, die Würde des Menschen missachtet oder gesellschaftliche Gruppen gegeneinander ausgespielt werden. Auf dieses Spiel der AfD darf man sich niemals – an keiner Stelle – einlassen. Und das werde ich auch nicht tun.

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Sie Sind bereits gedemütigt worden – besser gesagt: Es war eine Demütigung für alle Demokraten, als die FDP nach der letzten Wahl ihre Vereidigung zum Ministerpräsidenten mit der AfD zu durchkreuzen trachtete. Befürchten Sie, dass sich dies wiederholen könnte?

Zunächst einmal: Ich fühle mich nicht gedemütigt, denn das Amt des Ministerpräsidenten ist ein Amt auf Zeit. Ich habe kein Anrecht darauf, ein hohes politisches Amt ewig auszufüllen. Dass Herr Kemmerich gegen mich antrat, habe daher auch ich mit Respekt zur Kenntnis genommen. Das gebietet der Anstand vor den demokratischen Mitbewerbern, aber auch vor den Werten unserer Verfassung. Dass allerdings die CDU seit neun Jahren keinen Kandidaten mehr aufgestellt hat, aber die Verfassung zum dritten Wahlgang ändern will, ist erstaunlicher. Man hätte auch im dritten Wahlgang demokratische Klarheit, wenn neben dem Scheinkandidaten der AfD und Herrn Kemmerich auch der Spitzenkandidat der CDU, Herr Mohring, kandidiert hätte.

Der 5. Februar 2020 ist nicht vergessen. Bei mir nicht, in Thüringen nicht und auch in der einen oder anderen Parteizentrale sicherlich nicht. Ich habe keine Glaskugel, in die ich schauen kann, aber ich denke nicht, dass sich diese konkrete Konstellation noch einmal wiederholen wird.

Ohne jetzt auf eine ominöse Abspaltung einzugehen: Warum ist die Linkspartei so schwach, wo es doch so viele Themenfelder gibt, in denen sie sich als Anwalt des »werktätigen Volkes« profilieren könnte?

Das hat vielfältige Gründe, die auch in der Struktur unserer Partei zu suchen sind. Als Partei müssen wir lernen, fair und auf Augenhöhe Meinungsverschiedenheiten auszuhalten, zu debattieren, vor allem aber, dass – wenn Entscheidungen gefallen sind – diese auch als Gesamtpartei mitzutragen. Wir können nicht Formelkompromiss an Formelkompromiss reihen, der am Ende nur die Quadratur des Kreises versucht, an der man erfahrungsgemäß scheitern muss. Eine Partei muss für die Wählerinnen und Wähler einen konkreten Gebrauchswert haben. Die Menschen müssen spüren, dass sich mit ihrer Stimme für Die Linke tatsächlich etwas zum Besseren verändert. Dafür arbeite ich in Thüringen seit neun Jahren als Ministerpräsident. Eine Partei, die sich nur mit sich selbst beschäftigt, hat keinen Nutzen für die Menschen, die uns ihre Stimme geben sollen.

Was hat sich unter Ihrer »Regentschaft« in Thüringen zum Positiven verändert, wo mangelt es noch an etwas und inwieweit wollen Sie noch einiges verändern?

Wir haben den fatalen Personalabbaupfad der CDU-Regierungen von vor 2014 verlassen – insbesondere auch bei der Einstellung von Lehrerinnen und Lehrern. Wir haben zwei beitragsfreie Kindergartenjahre erkämpft, arbeiten am dritten und perspektivisch an der Beitragsfreiheit von Bildung und Betreuung. Wir haben Schulden abgebaut, konsolidierte Landeshaushalte vorgelegt und arbeiten mit Hochdruck auch an den Themenfeldern der direkten Demokratie für mehr Bürgerbeteiligung. Aber auch die Deutlichkeit, mit der wir das Thema Niedriglohnland angegangen sind, mit der Verve, mit der ich für Flächentarifverträge, für Mitbestimmung, für Betriebsräte und Gewerkschaftsmitgliedschaften eintrete, ist – wie ich finde – ein vorzeigbares Arbeitszeugnis aus den letzten zehn Jahren.

Klar ist aber auch: Politik ist ein Marathon, kein Sprint. Wir bleiben dran und nach 2024 werden die Aufgaben nicht kleiner. Ich bin aber bereit, auch weiterhin meine ganze Kraft einzusetzen, um Thüringen gemeinsam mit seinen Menschen weiterzuentwickeln.

Zu den Ereignissen 1923 siehe auch die Beiträge unserer Autoren Mario Hesselbarth, Ronald Friedmann und Manfred Weißbecker im »nd« am 14. und 21. Oktober sowie 4. November.

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