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Joni Mitchell wird 80: Größer als Folk
Die geniale Singer-Songwriterin Joni Mitchell wird 80
Sie betrat zur richtigen Zeit die künstlerische Bühne: Als Joni Mitchell Anfang der 60er Jahre begann, mit ihren damals noch eher traditionellen Folkstücken in den Bars und Klubs zwischen Detroit und Toronto aufzutreten, hatte Bob Dylan gerade seine ersten Alben veröffentlicht und für eine Revolution gesorgt, indem er die Person des Sängers und seine subjektiven Wahrnehmungen zum möglichen Gegenstand von Folksongs gemacht hatte.
Plötzlich fand die junge Frau aus der kanadischen Provinz, die auch überaus begabt malte und tanzte, die eine schwere Polio-Erkrankung überstanden hatte sowie die erzwungene Abgabe ihrer unehelich geborenen Tochter Kelly, eine spezielle Form in der Musik ihrer Wahl, um all diese ambivalenten Erfahrungen ausdrücken zu können. Sie tat das fortan mit Texten, die die Welt eben aus ihrer ganz persönlichen Perspektive schilderten, zudem mit ungewöhnlichen Gitarrenakkorden, die sie auf der Grundlage von offenen Stimmungen entwickelte, bei denen also schon beim Anschlagen der leeren Saiten ein Akkord erklingt, was vor allem ein Tribut an ihre von der Erkrankung gelähmte Greifhand war.
Nicht zuletzt aber tat sie das mit einer Stimme, die beweglich, natürlich, klar und doch stets eindringlich war. Diese drei Elemente zusammen bildeten den unverwechselbaren Joni-Sound, der bald in den Folkklubs von Greenwich Village, wo sie residierte, für Furore sorgte. Nach einem Umzug in das Zentrum des wilden Hippietums, den Laurel Canyon bei Los Angeles, integrierte sie dann Bands in klassischer Rockbesetzung in diesen Sound, der aber überraschenderweise intim und ungewohnt authentisch blieb.
Alles Weitere war eine Folge dieser künstlerischen Entscheidungen: Ab den 70er Jahren bewegte Joni Mitchell weltweit Menschen mit ihren Songs, galt als Urmutter dieses Genres, Singer-Songwriter, und schaffte es, trotz teilweise ätzender Gesellschaftskritik und privatester Beichten in ihren Texten niemals in eine Schublade einsortiert zu werden. Sie war da schon längst größer als Folk, ihre Songs seit dem Album »Ladies of the Canyon« (1970) integrierten auch immer deutlicher Elemente aus Blues, Latin und Funk in ihre Musik, was sie in Kombination mit jener unaufgesetzten Innerlichkeit erst richtig populär machte.
In diese Zeit ihres größten Erfolgs, den sie als eine Vorläuferin von Madonna, Björk und Co. weitgehend selbst verwaltete, fiel dann die größte Tragik dieses Künstlerinnenlebens: Ihre immer stärkere Hinwendung zum Jazz, die auf dem Album »The Hissing of Summer Lawns« (1975) begann und spätestens auf »Mingus« (1979) ein vollständiger Stilwechsel geworden war, musste alle Fans, die nach dem guten alten Joni-Sound süchtig waren, vor den Kopf stoßen.
Wie auch immer man zu dieser Phase ihres musikalischen Schaffens steht – sie ist wohl ihre spannendste –, tonal vielfältig funkelten allerdings schon ihre viel zugänglicheren Songs aus den Jahren davor, Songs wie »The Arrangement«, »Little Green« und »For the Roses«, die stets aus einfachsten Instrumentierungen bestehen: akustische Gitarre, Klavier und Stimme, aber in der Kombination von eklektischen Akkorden, ihrer mühelos singenden Stimme und den textlichen Litaneien eines ruhelosen Ichs. Das ist schlicht zeitlos.
Diese rätselhafte Klarheit ihrer Songs begegnete mir ebenfalls, als mir ihr ehemaliger Bassist Max Bennett einmal Filzstiftzeichnungen von Joni Mitchell zeigte, die sie ihm geschenkt hatte: Es waren tatsächlich nur Gesichter oder Landschaften aus einfachen Filzstiftstrichen, doch in der Fähigkeit, mit diesem Gebrauchsinstrument impressionistische Bildwelten entstehen zu lassen, waren sie kühn. Daher mag es gar nicht so sehr verwundern, in welchem Maß diese erste große Singer-Songwriterin auch heute noch von nachwachsenden Künstlerinnen wie Brandi Carlile oder Dua Lipa verehrt wird, und das für Songs, die mittlerweile vor über 50 Jahren aufgenommen wurden – was man ihnen aber nicht anhört.
Joni Mitchell war schon immer vor allem eine Musikerin der Musiker, die Liste der ihr treu ergebenen Fans reicht von Elton John über den ja leider schon verstorbenen Prince bis hin zu Annie Lennox und eben Madonna, die alle erkannten, dass hier aus dem Folk heraus etwas erwuchs, das vermutlich die größte Musik der vergangenen Jahrzehnte ist.
Auf die kanadische Diva, an der so wenig divenhaft ist, sieht man von ihren notorischen Tiefschlägen gegen Musikerkollegen ab – unvergessen etwa der Vorwurf in einem Interview, Bob Dylan habe sich seinen Stil eigentlich bei ihr abgeschaut –, warteten unterdessen weitere Prüfungen: Ihre kriselnde Karriere hatte in den 80er Jahren, als sie beliebigen Pop-Rock spielte und ihre Stimme vom Kettenrauchen hörbar ramponiert war, einen weiteren Tiefpunkt.
In den 90er Jahren schließlich war ihr nach einer gescheiterten Ehe, der einzigen ihres Lebens, nach Streitigkeiten mit der Musikindustrie und einer deutlichen Entfremdung von der US-Gesellschaft durch die Reagan- und Bush-Jahre erstmals wirklich Bitterkeit anzuhören. Selbst wenn es da und auch später noch vereinzelt erfolgreiche Comebacks für sie gab: Vor fünf Jahren, als ich ein Radiofeature über sie machte, war Joni Mitchell, überdies gerade mit den Folgen eines Schlaganfalls beschäftigt, kaum sonst ein Thema. Sie schien sich auf der Suche nach sich selbst irgendwie verloren zu haben.
Vor einem Jahr trat sie dann jedoch überraschend beim traditionsreichen Newport Folk Festival auf, nachdem sie einige Jahre lang die Fähigkeit zu gehen und zu sprechen verloren hatte, und im vergangenen Juni gab sie ihr erstes Headliner-Konzert seit 23 Jahren. Wenn Joni Mitchell nun ihren 80. Geburtstag feiert, wird der Gratulationsreigen auch deshalb groß ausfallen, weil sie all diese Krisen, die der Rohstoff für ihre Songs waren, am Ende gemeistert zu haben scheint.
Ob man noch zu ihren Lebzeiten den Mut aufbringen wird, sie als zweite Musikerin neben Bob Dylan, als eine, die nicht minder meisterhaft dichtete und musizierte wie ihr dionysischer Gegenpart, mit dem Literaturnobelpreis auszuzeichnen? Man müsste in diesem besonderen Fall wirklich einmal von ausgleichender Gerechtigkeit reden.
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