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- Pakistanisches Drama »Joyland«
»Joyland« im Kino: Das Leuchten von Lahore
»Joyland«, ein vielfach ausgezeichnetes pakistanisches Drama, erzählt vom Preis der Individualität
Er bügelt, nimmt die Wäsche ab, kocht, tollt mit seinen Nichten durchs Haus und hütet sie, wenn die Eltern unterwegs sind: Aus westlicher Sicht ist der sanftmütige Haider (Ali Junejo) ein fortschrittlicher Mann, dessen Leben nicht um die finanzielle Versorgung seiner Nächsten kreist, sondern um emotionale Fürsorge. Nahtlos fügt sich sein Lebensentwurf in den Alltag seiner Großfamilie ein: Er besorgt nicht nur die Kinderbetreuung für seine Schwester und hilft im Haushalt, er pflegt auch seinen greisen Vater und hält seiner Frau Mumtaz (Rasti Farooq) den Rücken frei, damit sie sich als Make-up-Artist verwirklichen kann – womit sie auch den Lebensunterhalt der beiden verdient.
Nur spielt »Joyland« nicht in Deutschland, sondern in Lahore, der zweitgrößten Stadt Pakistans. Und so entpuppt sich diese Familie, in der jede*r den Platz hat, der ihr*ihm gefällt, als Gefüge, in dem zwei Individuen aus ihren Rollen fallen, als Haiders Vater verkündet: »Jeder Job ist besser, als von der eigenen Frau zu leben.« Wie das Familienoberhaupt die Schmach bis dato ausgehalten hat, bleibt zwar unklar. Aber dass die beiden nicht für den lang ersehnten männlichen Nachwuchs sorgen, trägt nicht gerade zum Ansehen des jungen Paares bei.
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Fakt ist: Nach traditionellen Maßstäben ist Haider kein echter Mann, Mumtaz keine echte Frau, und so kommt es in einer für Großstädter*innen haarsträubenden Szene zur ultimativen Zerreißprobe: Haider soll eine Ziege im sonnenbeschienenen Innenhof schlachten. Er schafft es zwar, das Tier einzufangen und zu Boden zu drücken, aber die zuckende Kehle des Vierbeiners durchtrennt mit einem beherzten Hieb dann doch seine Ehefrau. Genau in diesem Moment ist die Geduld des Vaters aufgebraucht. Die Illusion der Eheleute, ein Leben nach eigenen Vorstellungen führen zu können, verpufft, ihr Schicksal ist besiegelt. Haider beugt sich den Erwartungen, zieht sich die feinen Lederschuhe an und macht sich auf die Suche nach Arbeit. Indes begräbt Mumtaz ihren Traum von Arbeit.
Womit die Probleme natürlich erst beginnen. Denn Haider lässt seine Beziehungen zum Erotiktheater eines Vergnügungsparks spielen. Ehe man sich versieht, ist er nicht nur halb nackter Background-Tänzer und Protegé der Transfrau Biba (Alina Khan), die in der Öffentlichkeit aus unerfindlichen Gründen auch genau als solche erkannt wird, sondern zudem Hals über Kopf in seine Arbeitgeberin verliebt. Erst bei den sehnsuchtsvollen Blicken, die sich der angehende Star und ihr Zögling zuwerfen, wird einem gewahr, dass die Beziehung zwischen Haider und Mumtaz zwar zugewandt, aber nie zärtlich, eher Freundschaft als Liebe war.
»Joyland«, der 2023 als erster pakistanischer Film seine Premiere bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes feierte, wurde vor Ort mit dem Jurypreis der Sektion Un Certain Regard und der Queer Palm ausgezeichnet. Bester Spielfilm, Bestes Ensemble, Bestes Drehbuch, Bester Schauspieler: Weitere Preise folgten.
Tatsächlich gelingt es dem Drehbuchteam Saim Sadiq und Maggie Briggs meisterhaft, statt einer queeren Romeo-und-Julia-Geschichte ein ganzes Panorama an unerfüllten Sehnsüchten aufzumachen. Angefangen bei Underdog Biba, der als Special-Interest-Act für die Vorstellungspausen weder Fototermine noch Auftrittsmöglichkeiten, geschweige denn gesellschaftliche Anerkennung geschenkt werden, über Mumtaz, die nach Aufkündigung ihrer Stelle vor lauter, auch sexueller Frustration nicht weiß, wohin mit sich, bis zur Unfähigkeit des Vaters, der Zuneigung einer mehr als befreundeten Witwe aus der Nachbarschaft den Weg zu ebnen.
Tradition ist die Gutenachtgeschichte von Kultur; sie ist strukturiert durch klar verteilte Rollen, sie führt zusammen, bewahrt und beruhigt. »Joyland« zeigt, wie Konventionen zum Albtraum geraten, wenn sie Individuen verstummen lassen, und Austausch zur Farce verkommt, weil es unmöglich geworden ist, sich selbst auszudrücken.
Regisseur Sadiq findet dafür als treffendes, wiederkehrendes Bild die Einstellung der Vogelperspektive aufs Bett der Eheleute Haider und Mumtaz. Meist liegen sie voneinander abgewandt da. Ihre vertraulichen Gespräche führen sie auf der Dachterrasse, wenn in der Ferne der lichte Horizont zu sehen ist. Immer wieder liegt ein Kind zwischen ihnen. Es wirkt wie ein Keil; weil es als menschgewordenes Symbol die gesellschaftlichen Erwartungen spürbar macht. Schließlich wird Mumtaz schwanger. Als sie Haider davon erzählt und er in Tränen ausbricht, beginnt man zu ahnen, dass »Joyland« kein glückliches Ende finden wird.
Prägten am Anfang noch die Kinderspiele und Späße die Stimmung im Haus, verdunkelt sich die Atmosphäre zunehmend. Als die Mädchen auf der Suche nach Leuchtkäfern durch die Flure toben, werden sie jäh unterbrochen: »Hier gibt es keine Glühwürmchen«, lautet das Machtwort der Erwachsenen, das ihnen Einhalt gebietet.
Doch sie irren. »Der Film ist auch eine Feier des Begehrens, das unwahrscheinliche Bindungen schafft, und der unterblichen Liebe«, lässt sich Sadiq im Presseheft zum Film zitieren. »Letztendlich ist es eine herzzerreißende Liebeserklärung an mein Heimatland Pakistan.« Und so wundert es nicht, dass »Joyland« die Erwachsenen eines Besseren belehrt, mit leuchtenden Beispielen der Menschlichkeit. Wenn etwa Haider sich in der Bahn an die Seite von Biba setzt, um die Schikane der Sitznachbarin zu beenden, macht das nicht nur Biba Hoffnung, dass die Einzelnen auch weiterhin den Mut aufbringen werden, das Dunkel patriarchaler Strukturen zu durchbrechen.
»Joyland«, Pakistan 2022. Regie: Saim Sadiq; Buch: Saim Sadiq, Maggie Briggs. Mit: Ali Junejo, Alina Khan, Rasti Farooq, Sarwat Gilani, Sohail Sameer, Salman Peerzada, Sania Saeed. 126 Min. Filmstart: 9. November.
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