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Fabrikschließung: Niemand rettet sich allein
Dem besetzten ehemaligen GKN-Werk bei Florenz droht die Räumung
»Wir befinden uns im Jahr 2023 n. Chr. Ganz Italien wird von den Faschisten regiert. Ganz Italien? Nein! Eine von unbeugsamen Arbeitern besetzte Fabrik hört nicht auf, Widerstand zu leisten.« So muss es sich der italienische Comic-Zeichner Zerocalcare gedacht haben, als er Asterix und Obelix als Mitglieder des Fabrikkollektivs darstellte. Seit zwei Jahren streiken die ausnahmslos männlichen Arbeiter für die Reindustrialisierung ihrer Fabrik. Luftmatratzen in Büroräumen erinnern an die Frühphase des Streiks, als die 422 Angestellten und 80 Leiharbeiter des ehemaligen GKN-Werks nach einer illegalen Massenkündigung am 19. Juni 2021 eine permanente Betriebsversammlung einberiefen und die Fabrik besetzten. Immer noch streiken 173 Arbeiter.
Im Eingangsbereich trudeln Anwohner*innen der Gemeinden Campi Bisenzio und Prato, Unterstützer*innen, Schüler*innen und Streikende anderer Firmen auf Fahrrädern ein. Banner hängen von den Werkszäunen, eines ruft gelb auf rotem Hintergrund: »Insorgiamo!« – Erheben wir uns! Es ist das Motto der Streikenden. Obwohl es der letzte Septembertag ist, treiben 30 Grad und Sonnenschein den Menschen Schweiß auf die Stirn. Im Fahrradkonvoi fahren sie Richtung Flughafen Florenz, zusammen mit der Klimabewegung protestieren sie gegen dessen Ausbau. Immer wieder hört man jemanden »Cargo Bike« rufen. Die Arbeiter lächeln, wenn das Wort verwendet wird. In Campi Bisenzio fällt es mit der Vision einer sozialökologischen Transformation zusammen, »Cargo Bike« ist Hoffnung. Manchmal, wenn in der Fabrik mittags wenig los ist, setzt sich ein Arbeiter auf den Sattel eines der Prototypen, ein anderer vorne auf die Transportfläche und dann fahren sie jubelnd ums Werk.
Die selbstorganisierten Arbeiter wollen, statt wie zuvor Achswellen für die Automobilindustrie herzustellen, Lastenräder und Solarpanels produzieren. Diese würden ohne die Ausbeutung von Rohstoffen wie Lithium oder Silizium funktionieren. Der profitorientierte Betrieb soll eine gemeinwohlorientierte Genossenschaft werden. Um die Fabrik zu kaufen und eine neue Produktionslinie zu installieren, starteten die Arbeiter im September eine Eigenkapitalkampagne. Ende Oktober sind schon 112 000 Euro an Anteilen gezeichnet. »Verschiedene Betriebe könnten gemeinsam auf dem 38 000 Quadratmeter großen Gelände arbeiten. Wir brauchen nur etwa 10 000«, sagt Betriebsrat Massimo Barbetti.
Einen Euro für eine Fabrik
Mit ihrer Vision einer genossenschaftlichen Fabrik bilden die Arbeiter das genaue Gegenteil zur britischen Investmentgesellschaft Melrose Industries, die GKN 2018 aufkaufte und das Werk in Campi Bisenzio 2021 zu schließen versuchte. Die Fabriksperrung folgt einer Finanzialisierungslogik: Einzelne Werke werden geschlossen, um die Wertschöpfungskette zu optimieren. Die international agierenden Kapitalisten deindustrialisieren auf diese Weise Regionen, die ihnen wenig rentabel scheinen.
»Die Fabrik ist wichtig für diese Gegend«, betont die 44-jährige Daniela Folcolini, die in Prato wohnt. »500 Familien leben von dieser Fabrik. Ich kenne das Kollektiv über einen Freund, der hier arbeitete.« Folcolini wünscht sich, dass die Arbeiter mit der Transformation des Fabrikgeländes beginnen können. Doch weil Francesco Borgomeo, der das Gelände im Dezember 2021 kaufte, weder eigene Pläne für die Fabrik vorlegt noch auf die Ideen der Arbeiter eingeht, organisieren diese ins Ungewisse hinein. »Der Verkauf an Borgomeo war ein Schritt, die Kündigung der Arbeiter zu verschleiern«, sagen Betriebsrat Dario Salvetti und Anwältin Silvia Ventura. Medienberichten zufolge könnte es sein, dass Borgomeo lediglich einen symbolischen Euro für das Areal gezahlt habe, das zwischen 2020 und 2023 mindestens zehnmal neubewertet wurde. Auf diese Weise stieg dessen Marktwert von 2,8 Millionen Euro im Jahr 2020 auf 29 Millionen im Jahr 2023. »Borgomeo arbeitet daran, das Gelände zu leeren und alles zu verkaufen«, mutmaßt Barbetti. Die Soziologin Margherita Turchi stuft Borgomeo als Abwickler ein: »Er arbeitet auch in anderen Regionen Italiens, kauft Fabriken, aber tut nichts mit ihnen. Es scheint, er vollzieht nur den Prozess der Fabriksperrung.«
Das Problem ist der Kapitalismus
Zum Fabrikkollektiv gehören nicht nur die Streikenden, sondern auch ihre Familien, Mitstreiter*innen und verbündete Gruppen. »Niemand rettet sich allein. Wir haben viele Probleme, die Ursache ist immer der Kapitalismus«, sagt Benedetta Rizzo, Arbeiterin bei Baker Hughes und Mitglied der Support Group, die das Kollektiv dabei unterstützt, Kontakte zu anderen Gruppen in Italien herzustellen. Die Support Group tritt etwa bei der Bevölkerung in Campi Bisenzio, Prato und Florenz für die Anliegen des Kollektivs ein. Derzeit schwanke die Zahl der Aktiven zwischen 50 und 100 so Rizzo. Auch Luca Mangiacotti von der Gruppe Political Ecology aus Pisa unterstützt die GKN-Arbeiter. »Als GKN über die Produktion von Photovoltaik-Panels nachdachte, war ›Political Ecology‹ dabei«, sagt Mangiacotti. Political Ecology sei ein autonomes Netzwerk von Kollektiven, die in die Universitäten hineinwirkten: »Wir arbeiten mit den Gewerkschaften und der Klimabewegung zusammen.« Neben Wissenschaftler*innen wirken auch Künstler*innen in der Fabrik mit, zum Beispiel mit Theateraufführungen, Filmen und Buchmessen.
Während es am Anfang der Besetzung darum ging, in der Fabrik präsent zu sein, erklärt Betriebsrat Salvetti, finde die Hauptarbeit des Kollektivs mittlerweile außerhalb des Geländes statt: »Vernetzen, Partner für die Genossenschaft finden, Investoren anwerben«, erklärt der Mann, den die Arbeiter als ihren inoffiziellen Anführer bezeichnen. Er ist viel unterwegs: Am 7. Oktober nimmt er in Amsterdam an der Global Climate Jobs Conference teil, am nächsten Tag ist er für eine Veranstaltung in Potenza, Süditalien. Wenn man ihm auf dem Gelände begegnet, telefoniert er entweder oder befindet sich im Besprechungsraum der Fabrik, dem »Hauptquartier«, wie er es nennt. Die schwarzen Kabelkopfhörer hängen wie ein Brillenband um seinen Hals – für den Fall, dass ein Anruf reinkommt. Er blickt viel auf sein Handy, auch mitten im Gespräch: »Ich muss sofort antworten, sonst häuft sich die Arbeit.« Vor ihm liegt eine Chipstüte. »Mein Mittagessen«, sagt er. Nach einem kurzen Gespräch steigt er aufs Motorrad – ein Termin in der Hafenstadt Livorno.
Familien unter Druck
Wenn man in die Fabrik kommt, findet man gleich zur Linken einen Container: die »Bar Collo«. Die Bar Aufenthaltsraum für die Arbeiter, Ort für Besprechungen und Empfangsraum für Gäste. Etwa 40 Arbeiter sind regelmäßig in der Fabrik. Sie halten das Gelände in Schuss, bewachen die Maschinen, organisieren Veranstaltungen. Der 34-jährige Marco ist häufig hier. Wegen seiner achtjährigen Tochter und ihrer Mutter, die gegen den Streik ist, nennt er seinen Nachnamen nicht: »In der Fabrik habe ich einen Rhythmus«, sagt er, während im Hintergrund 80er-Jahre-Pop läuft. »Zu Hause drehen sich die Gedanken, aber hier habe ich meine Kollegen, wir sind wie eine Familie – das gibt mir Struktur.« Während der kunstvoll tätowierte Ex-Grafikdesigner sich eine Zigarette dreht, zeigt er auf einen hageren Mann Mitte 50: »Das war mal mein Vorarbeiter.« Dann lacht er: »Jetzt sitzen wir alle gemeinsam in der Scheiße!«
Die Zahl der Streikenden ist von 370 auf 173 gefallen. Ein Grund hierfür sind familiäre Spannungen. Vor einem Jahr stoppte Eigentümer Borgomeo die Lohnauszahlungen. »Damit zwang er viele, den Streik zu beenden. Zehn bis fünfzehn Prozent der Arbeiter fielen in Depressionen«, berichtet Salvetti. Marco erzählt, Scheidungen seien ein Thema: »Ich hatte wegen des Streiks nicht so viel Geld und konnte keine Zukunftsvision anbieten. Meine Partnerin trennte sich.« Die Fabrikbesetzung taugt nur bedingt als Projektionsfläche revolutionärer Träume. Der 53-jährige Arbeiter Andrea Valneri sagt: »Ich habe keine Schulden, aber der Krieg und die Inflation erschweren vieles. Ich hoffe auf ein baldiges Ende.« Valneri arbeitete zwei Jahrzehnte für GKN.
Letizia, die Ehefrau eines Streikenden, hat zwei 15 und 18 Jahre junge Söhne. Weil sie im Hotelsektor arbeitet, hat die Familie ein monatliches Einkommen von 1000 Euro. »Die Nachbarn werfen meinem Mann vor, er sei faul und wolle nur nicht arbeiten. Wir erleben wegen dieser Sache viele Anfeindungen.« Trotzdem gehört sie zu denen, auf die man in der Fabrik häufig trifft. Sie will gesellschaftliche Probleme kollektiv angehen. In der Hotelbranche beobachte sie Rassismus: »Die Pakistani werden übel ausgebeutet, den Rumänen geht es ähnlich, aber sie schauen auf die Pakistani herab, identifizieren sich nicht mit ihnen, und die italienischen Angestellten machen dasselbe mit den Rumänen.« Stattdessen, so Letizia, sei es wichtig, sich nicht spalten zu lassen.
Für den 7. Oktober hat die Metallgewerkschaft FIOM zur Demonstration in Rom aufgerufen. Das Kollektiv reist an, ist laut und singt die »Occupiamola«, sein Protestlied. Wenn der GKN-Block schweigt, wird es still. »Sie laufen wie ein Trauermarsch«, kritisiert Alessandro Tapinassi, der so etwas wie der musikalische Frontmann des Kollektivs ist. Man sieht ihn im Netz auf vielen Videos: Stets in der ersten Reihe, immer mit einem Instrument, lauter als alle anderen. Für ihn drückt die Stille der Demonstration das ganze Elend des Gewerkschaftsbundes CGIL und der FIOM aus, die er Mitte-Links einordnet. Die fehlende Lautstärke und ihre Schwäche in der Auseinandersetzung mit den Rechten gingen Hand in Hand.
Erneute Kündigung der Arbeiter
Am 12. Oktober setzen sich Fausta Bergamotto (Fratelli d’Italia), Unterstaatssekretärin im Ministerium für Unternehmen und Made in Italy, und die Regierung der Toskana zusammen, um über den Reindustrialisierungsplan des Kollektivs zu sprechen. Die Arbeiter der GKN-Fabrik sind nicht eingeladen. »Außer aufeinander können wir auf niemanden bauen. Das deprimiert mich«, sagt der Arbeiter Michele Pannone. Auch Salvetti ist enttäuscht: »Diese Besprechung ist eine einzige Farce.« Unterstaatssekretärin Bergamotto empfiehlt im Anschluss an das Treffen, dass der Eigentümer die Fabrik von der Polizei räumen lassen sollte. »Wir haben auch davor in dem Wissen gekämpft, dass uns Unterstützung fehlt. Aber jetzt wissen wir, dass die extrem rechte Regierung offen gegen uns ist. Die Gefahr einer Räumung droht, wir denken die ganze Zeit darüber nach«, sagt Barbetti. Er wisse, warum die von Neofaschist*innen angeführte Regierung gegen das Kollektiv sei: »Wenn wir hier gewinnen, wäre das ein starker Präzedenzfall für die Arbeiter Italiens.«
Eigentümer Borgomeo reagiert auf die Empfehlung der Unterstaatssekretärin. Am Nachmittag des 17. Oktober erhalten die Arbeiter eine erneute Kündigung – dieses Mal formal korrekt. Es folgt eine Krisensitzung in der Fabrik, die Arbeiter demonstrieren in Florenz und halten in der »Bar Collo« eine Pressekonferenz ab. Salvetti erklärt, dass es nur zwei Alternativen gebe: »Fliegen oder fallen!« Die Streikenden machen weiter mit der Eigenkapitalkampagne, versuchen mit der Regierung ins Gespräch zu kommen, politischen Druck auszuüben.
Internationalismus könnte retten
Anwältin Silvia Ventura erklärt, dass die Polizei die Arbeiter nicht einfach rauswerfen könne: »Die Angestellten haben ein Recht, in der Fabrik zu sein, wenn die Polizei sie räumt, ist das illegal.« Legal kriegt Borgomeo die Arbeiter nur über Kündigungen aus der Fabrik: »Wenn viele Menschen auf einmal gefeuert werden, muss das auf juristisch korrektem Wege geschehen. Dieser Prozess muss mindestens 75 Tage dauern«, erklärt Ventura. Mit der Kündigung vom 17. Oktober tickt die Uhr. Zum 1. Januar 2024 müssten die Arbeiter die Fabrik dann verlassen, so Ventura. Auf die Frage, was sie planen, antwortet Salvetti: »Das wird ein entscheidender Moment sein. Wir werden die Fabrik neu besetzen müssen.« Er ruft zu internationaler Solidarität auf: »In diesem Fall bräuchten wir auch Hilfe aus Deutschland.« Eine Silvesterfeier in der Fabrik ist im Gespräch.
Mit Blick auf die lokalen Akteure hofft auch Barbetti auf internationale Solidarität: »Videos von Unterstützer*innen, bekannten linken Gesichtern aus anderen Ländern, Politiker*innen oder Gewerkschafter*innen, die man in den sozialen Medien teilen kann, sind immer hilfreich, um vor Ort Druck zu machen. Es würde helfen, wenn Leute verstehen, was wir hier tun und es in ihren Ländern genauso machen.«
Mittlerweile ist es trotz Hitze am Tag nachts ziemlich kalt. Während ich mit kurzer Hose und einem lockeren Pulli in der Bar stehe, trägt mein Gegenüber, das sagt: »Keine Namen, schreib, ich bin ein Gespenst«, eine Jacke, lange Hosen und eine schwarze Wollmütze. »Wir brauchen heute Menschen mit einer Vietcong-Mentalität. Menschen, die nicht sofort zurückschrecken vor einem großen Gegner, sondern bereit sind, für etwas zu kämpfen«, so der Arbeiter. Es ist ein Uhr nachts. In der Bar zeigt er ein Video von Noam Chomsky. Es geht um Mondragón, die größte Genossenschaft Spaniens: »Sie schaffen es, den Markt zu formen und von Sperrungen bedrohte Fabriken aufzubauen, in denen die Arbeiter Rechte haben«, sagt er und träumt von einem Netzwerk gemeinwohlorientierter und selbstorganisierter Fabriken überall in Europa: »Je mehr Fabriken zusammenarbeiten, desto mehr Möglichkeiten gibt es, Arbeitsplätze mit Rechten zu schaffen. Natürlich ist das kein sozialistischer Staat. Aber es ist ein kleiner Schritt zur Schaffung menschenwürdiger Arbeit.« Über dem Fabriktor weht eine Italien-Flagge, das Wappen wurde ersetzt durch einen roten Stern, unter dem steht: »Resistenza« – Widerstand.
Am 30. Oktober öffnete das Fabrikkollektiv die Eigenkapital-Kampagne für die breite Öffentlichkeit. Zu diesem Zeitpunkt hatte es 165 000 Euro gesammelt. Vereine, Initiativen, Unternehmen, Organisationen und Privatpersonen aus dem europäischen Raum können Anteile der Genossenschaft GKN-For-Future (GFF) erwerben. Infos gibt es unter gffcoop@gmail.com und gkn4future.deutschland@gmail.com.
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