»Alle meine Geister«: Im Takt der Stechuhren

Handwerk und Poesie: In »Alle meine Geister« berichtet Uwe Timm über die Fünfziger Jahre

  • André Dahlmeyer
  • Lesedauer: 6 Min.
Die Werkstatt ist der Mikrokosmos der Nachkriegsgesellschaft.
Die Werkstatt ist der Mikrokosmos der Nachkriegsgesellschaft.

Nicht wenige jener Schriftsteller, die die Nachkriegsliteratur in der BRD bestimmten, haben sich durch die Beschönigungen ihrer Lebensläufe während der NS-Diktatur diskreditiert. In diesen Verdacht kann Uwe Timm nicht geraten, weil er ein Zuspätgeborener ist. Dennoch ziehen sich die Themen Krieg, Nachkrieg, Wiederaufbau etc. durch sein Werk. Dabei hat er sich mit den Verfehlungen seiner Familie literarisch auseinandergesetzt – eine Sisyphosarbeit.

Uwe Timm wurde 1940 in Hamburg als drittes und jüngstes Kind eines Kürschners geboren. Der Großvater war Kapitän, bei einer seiner Tanten im Hafenviertel saßen regelmäßig Leute aus dem Rotlichtmilieu herum. Sein 16 Jahre älterer Bruder Karl-Heinz meldete sich 1942 freiwillig zur Waffen-SS und tritt der Totenkopf-Division bei. Nach einem halben Jahr Kriegseinsatz wird er an der Ostfront verwundet und stirbt im Lazarett. Uwe Timms Vater war im Ersten Weltkrieg Soldat, schloss sich anschließend einem Freikorps an und kämpfte im Baltikum.

Erst nach dem Tod der Eltern und seiner Schwester veröffentlicht Timm 2003 die Erzählung »Am Beispiel meines Bruders«. Darin setzt er sich offensiv mit seiner Familie auseinander, wobei ihm unter anderem ein verbotenes Front-Tagebuch des Bruders und Feldpostbriefe dienten. Das war nicht nur literarisch einzigartig, es war auch ein Schlag in den Nacken all der hausbackenen Mahner von einst, die sich viel zu oft auf das allgemeine Moralisieren beschränkten. Wer braucht schon einen Zeigefinger in der Stirn?

2017 erschien Timms großartiger Roman »Ikarien«. Wieder ein Stück Familiengeschichte und der Beweis, dass es auch anders geht als in den »Buddenbrooks«. Timm rekonstruiert darin die Biografie von Alfred Plötz, Arzt und sogenannter Rassenforscher, der als Mitbegründer der Eugenik in Deutschland gilt und dafür den Begriff »Rassenhygiene« prägte. Seine Enkelin ist Dagmar Ploetz, geboren am Ammersee, aufgewachsen zwischen 1948 und 1965 im argentinischen Atlantik-Badeort Villa Gesell. Im November 1969 heiratete sie in München Uwe Timm, beide haben drei Kinder zusammen. Sie ist eine Topübersetzerin, vor allem von Gabriel García Márquez, aber auch von Gioconda Belli, Manuel Puig und Juan Rulfo.

Als Dreijähriger erlebte Uwe Timm die Ausbombung seiner Familie in Hamburg mit. Daraufhin lebte er vorübergehend bei einem Onkel, einem Tierpräparator, in Coburg. Um Tiere geht es auch in dem neuen Buch, das so etwas wie ein autobiografischer Bildungsroman ist. Ein Erinnerungsbuch und ein Buch des Aufbruchs, der permanenten Veränderung und Weiterentwicklung. 1955 steckt der Vater den 14-jährigen Volksschüler mit Rechtschreibschwäche in eine Kürschnerlehre. Die wesentlichen Passagen des Buchs spielen zwischen 1955 und 1961. Ausbildung, Tod des Vaters (Herzinfarkt mit 58), Firma praktisch pleite, die ersten Tierschützer rücken an, doch dem frischgebackenen Kürschnergesellen gelingt es schliesslich, unterstützt von Mutter und Schwester, den Laden in Rekordtempo, nicht ohne Entlassungen, wieder in die schwarzen Zahlen zu hieven.

Die Poesie und ihre Nähe zum Handwerk, in diesem Fall dem Kürschnerhandwerk, bei Timm geht beides Hand in Hand. Zwar war damals der Kapitalismus längst entfesselt (»Geld bringt Geld«, John Steinbeck), doch es gab noch Produkte, auf deren Qualität man Wert legte. Timms Text ist eine Hommage nicht nur an das antike Kürschnerhandwerk sondern an alle Handwerker. Handarbeit ist einfach gut für den Kopf.

»Alle meine Geister« ist ein Remix der Erinnerungen, in Timms gewohnt collageartiger Erzähltechnik. Die »Geister «sind vor allem all die Kollegen von damals, aber auch der belesene Berufsschullehrer. Manche wurden zu Teilzeit-Freunden und zu vermeintlichen Liebschaften. Manches Mal versagt ihm Erinnerung,was Namen anbelangt. Diese Menschen beschreibt Timm sehr liebevoll. Sie haben ihm oft Bücher, und zwar nicht irgendwelche, empfohlen oder sogar zugesteckt: »Brehm’s Tierleben«, Dostojewski, Camus und Kafka. Timm hat sie nun noch einmal gelesen und beschreibt wie sie heute auf ihn wirken und was sie damals für ihn bedeuteten. Und auch den Wunsch, etwas ganz anderes zu machen. Sich weiterzubilden und zu schreiben.

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All das passiert im sogenannten Wirtschaftswunderland, wo geklotzt und nicht gekleckert wurde, zwischen kodifizierten Tanztees und dem obligatorischen Geraderücken der Krawatte. Allerorts sind Baustellen, es wird geradezu manisch gebaut. Das Geschäft seines Vaters war »im Kleinen, was im Grossen zu hören war: Nachts trug der Westwind das Dröhnen der Niethämmer über die Stadt«. Die Werkstatt ist Mikrokosmos der Nachkriegsgesellschaft, Heimatvertriebene, Nazis und Versehrte treten auf (und ab). In der eng bemessenen Freizeit, fernab vom Takt der Stechuhren, herrschen rigide Kontrollen, es ist die Zeit des Kuppeleiparagraphen. Timm bezeichnet sich im Rückblick als schüchtern, verortet sich neben Boot und Strom.

Zuschneiden, vernähen, auftrennen, neu zusammensetzen, des Kürschners ist des Schreibers Lust. Damals, so Timm, war nur die Leichenwäsche gut bezahlt. Die Kürschner seien eher intellektuell gewesen. Man diskutierte Bücher, Klassik und Jazz. Sein Meister Kruse, ein linker Sozi, initiiert ihn politisch. Bei privaten Latein- und Griechischstunden entdeckt er die Gedankenwelt der Anarchismen. Sein Freiheitswille pocht. Veränderung ist angesagt. Das Kürschnergewerbe geht ohnehin den Bach runter, bald schon pinseln Tierschützer »Mörder!« an das Geschäft der Timms. Die Mutter hält dem Druck nicht stand, verkauft das Familienunternehmen für kleines Geld. Ein Jahr darauf ist der neue Inhaber pleite. Wenig später boomen Pelze dann bei Hippies, Kommunarden und Fußballstars.

Und dann geht Timm nach Braunschweig, »ein wirklich anderes Leben anzufangen«. 1961 fängt er am BS-Kolleg an, damals eine Hochbegabten-Eliteschule mit Intelligenz-Test, um das Abitur doch noch zu meistern. 1949 gegründet, hatte diese Schule des Zweiten Bildungswegs die Räumlichkeiten der ehemaligen Akademie für Jugendführung der Hitlerjugend inklusive Führerbalkon bezogen. So braun wie in Braunschweig und Umgebung war es sonst kaum in Deutschland. Die scheußlichen Gebäude des Kollegs kenne ich gut: 1989 bin ich dort als erster Kollegiat in 40 Jahren inmitten eines Heers von Speichelleckern von der Schule geflogen.

Uwe Timm lernte dort Benno Ohnesorg kennen, sie sind gleichaltrig und freunden sich an. Kürschner trifft Dekorateur. Timm wies immer wieder kumpelhaft darauf hin, dass Ohnesorg sein erster Leser gewesen sei. Nicht nur das: Er war auch der erste, der Uwe Timm publizierte, nämlich in der von beiden gegründeten Literaturzeitschrift »teils-teils«, benannt nach einem Gedicht von Gottfried Benn. Ich tippe auf getackerte Wachsmatrizenblätter. Zusammen entdeckten sie Apollinaire, Beckett, Camus und Ionescu. Über diese selbstbestimmten Bildungserlebnisse hat Timm in seiner Erzählung »Der Freund und der Fremde« (2005) geschrieben.

Ohnesorg malte und schrieb , war versiert in den Werken der französischen Moderne und wurde bekanntlich am 2. Juni 1967 auf der Anti-Schah-Demo vor der Deutschen Oper in Westberlin von einem Polizisten in Zivil erschossen. Die Versuche des Staatsapparats, den Mord zu vertuschen, radikalisierten die Studentenbewegung; der sich auch Timm im SDS anschloss. Vom Tod seines Schulfreunds erfuhr Timm an der Pariser Sorbonne, wo er Philosophie und Germanistik studierte und 1971 über »Das Problem der Absurdität bei Albert Camus« promovierte.

In »Alle meine Geister« erklärt Timm, wie sein Blick auf die Welt entstanden ist. Seine Filmdrehbücher, etwa die »Bubi Scholz Story« (1998) erschlossen ihm spät auch einen »nicht literarischen« Markt. 2018 erhielt er das Bundesverdienstkreuz (und hat es nicht abgelehnt). Er hat viel für die deutschsprachige Literatur getan, für das Erinnern, gegen das Vergessen. Seine Leistung ist, das er immer Fragen aufgeworfen hat, konstruktiv, ohne je peinlich zu sein. Das ist sehr viel.

Uwe Timm: Alle meine Geister. Kiepenheuer & Witsch, 288 S., geb., 25 €.
Lesungen: 23.11. Bonn, buchLaden 46; 26.1. Nürnberg, Literaturhaus; 27.1. Regensburg, Theater.

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