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Gewalt an Frauen: Mehr als abstrakte Theorie
Livia Sarai Lergenmüller über gewalttätige Alltagserfahrungen im Patriarchiat
»Später habe ich zu einigen Männern gesagt: ›Kurz vor meinem zwölften Geburtstag wollte mein Vater meine Mutter umbringen.‹ (...) Alle verstummten, nachdem sie den Satz gehört hatten. Ich merkte, dass ich einen Fehler gemacht hatte, dass sie damit nicht umgehen konnten.«
Wie ein Schlag ins Gesicht hat sich das Lesen dieser Textpassage von Annie Erneaux angefühlt. In ihrem Buch »Die Scham« verarbeitet sie die Erfahrung, wie sie als 12-jähriges Mädchen ihren Vater beim Versuch beobachtete, ihre Mutter zu töten. Sie schildert die Scham, die mit dem Erlebten einhergeht: eine von diesen Familien zu sein. Aber auch das Schweigen, das einem begegnet, wenn man es wagt, darüber zu reden. Selbst Jahre später noch.
Viele, die häusliche oder sexualisierte Gewalt direkt oder indirekt erlebt haben, teilen Erneaux’ Erfahrung: Das Erlebte lässt die Welt aus den Fugen geraten und brennt sich ins eigene Fleisch. Jemand anderen davon zu erzählen, gleicht jedoch einer Zumutung. Vor allem dann, wenn man es mit einem Mann zu tun hat.
Wir kennen ihre Reaktionen. Das demonstrativ verzerrte Gesicht, mit dem sie die Abscheu gegenüber ihnen, diesen anderen Männern, zum Ausdruck bringen, das beschämte Weggucken und dann: Sprachlosigkeit. Zu unangenehm die Details, zu groß die Angst, nicht die richtigen Worte zu finden, vielleicht auch einfach routinierte Vermeidungsstrategie gegenüber der eigenen Täterschaft, wer weiß. Sich mit den Gewalterfahrungen im eigenen Umfeld auseinanderzusetzen jedenfalls, darin sind selbst die Feministen unter ihnen nicht geübt.
Livia Sarai Lergenmüller schreibt als freie Journalistin über Kultur und Gesellschaft mit einem Schwerpunkt auf geschlechtsspezifische Gewalt.
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Dabei können die Feministen, die ich kenne, die Zahlen auswendig: Jeden dritten Tag tötet ein Mann seine (Ex-)Partnerin. Und jede Stunde werden 14 Frauen vom Partner geschlagen. Feministen wissen, was ein Femizid ist und haben eine Haltung zur Umsetzung der Istanbul-Konvention, die verbindliche Rechtsnormen gegen Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt schafft. Die Hausaufgaben sind gemacht. Leider aber ist das Patriarchat nicht nur abstrakte theoretische Analyse. Es ist eine brutale Lebensrealität.
Wisst ihr, wie es sich anfühlt, wenn die beste Freundin nachts aufgelöst in verrutschter Kleidung im Treppenhaus auf dich zu taumelt? Wie es sich anfühlt, dabei zuzusehen, wie der Stiefvater zuschlägt? Davon aufzuwachen, dass dein bester Freund dich im Schlaf anfasst? Wenn deine Freundin dir zögernd erzählt, dass sie die Sache letzte Nacht eigentlich nicht wollte? Wisst ihr, wie es sich anfühlt, wenn der Busfahrer dich mit der Hand auf den Mund in die Ecke drückt? Wahrscheinlich nicht. Am allerwenigsten wissen darüber die Männer, die uns am nächsten sind.
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Wer will schon mit diesem Wahnsinn zu tun haben, ließe sich entgegnen. Heute lässt sich Feminismus doch längst als verschönerndes Stilmittel in den Alltag integrieren, der moderne Weg zu besserem Sex und guten Flirts eben, die spaßigen Restposten eines jahrzehntelangen Kampfes. Es reicht für Männer, sich dem mondänen Abgrenzungskult gegenüber anderen Männern anzuschließen. Man selbst hat es wirklich verstanden, Männlichkeit als Herrschaftsprinzip.
Dabei bedeutet das Bekämpfen von geschlechterspezifischer Gewalt zuallererst: fähig sein, darüber zu sprechen. Am besten fängt man damit im eigenen Umfeld an. Denn Statistiken zeigen: Die Frauen in eurem Umfeld haben Gewalt erfahren, allesamt. So richtig und in echt und am eigenen Leib. Die Zahl der Vergewaltigungen und Gewaltdelikte gegen Frauen steigt seit Jahren kontinuierlich an, und die Frauenhäuser quellen über.
Feministische Praxis bedeutet somit auch, den Schmerz, die Wut und den Ekel auszuhalten, den ein Leben als Frau mit sich bringt. Dafür könnte die performative Entrüstung, die jährlich am Internationalen Tag gegen Gewalt gegen Frauen am 25. November bemüht wird, doch in diesem Jahr genutzt werden. Zuhören. Verstehen. Weiterkämpfen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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