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Anker für die Frauenrevolution
Kurdinnen haben über Jahre die Selbstorganisation in Syrien aufgebaut. Doch sie ist bedroht
Sie sind zusammengekommen. Kurdinnen, Suryoye und Araberinnen – Christinnen und Muslima, Jung und Alt sitzen beisammen, um sich gegen patriarchale Gewalt und für Frauenrechte einzusetzen. Fast 20 Vertreter*innen verschiedener Frauenorganisationen und -bewegungen aus ganz Nord- und Ostsyrien sind nach Qamishlo gekommen und bereiten in den Räumen des regionalen Frauenrates den »Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen« vor, der alljährlich am 25. November begangen wird. Sie haben ein Programm auf die Beine gestellt, das neben Demonstrationen auch Seminare, Diskussionen sowie kulturelle Veranstaltungen enthält, und stellen es an diesem Tag Medienvertreter*innen vor. Der diesjährige Slogan »Gegen alle Formen von Gewalt und Besatzung – Jin Jiyan Azadî« gilt allerdings nicht nur an diesen Tagen.
Ilham Omer, eine Frau Mitte 50 mit selbstbewusster Stimme und ruhigem Auftreten, ist seit 34 Jahren politisch aktiv. Sie sitzt im »Mala Jin«, frei übersetzt heißt das »Haus der Frau«, mit einer Tasse schwarzem Tee in der Hand und erzählt: »Vor und zu Beginn der Revolution waren Frauen wenig sichtbar und wenig aktiv im öffentlichen sowie politischen Leben. Das hat sich nun verändert, mittlerweile sind Frauen überall aktiv. Wir haben das Ko-Vorsitzende System etabliert.« Sie meint damit die genderparitätische Doppelspitze bei allen Ämtern. »Frauen engagieren sich politisch und nehmen sogar eine Vorreiterinnenrolle ein. Die Rolle der Frauen in der Gesellschaft hat sich gewandelt, und damit haben sie ihren Willen und ihre Organisierung gestärkt.«
Ein Podcast, der dich anlässlich des zehnjährigen Jubiläums mit auf die Reise zur Frauenrevolution in Rojava nimmt. Innerhalb von sechs Folgen besuchst du gemeinsam mit Linda Peikert Orte, die im Zuge der Befreiung der Frau erst möglich wurden. Wer sind die Frauen, die gegen den IS und für ihre Rechte kämpfen? dasnd.de/rojava
Die Revolution, von der Ilham Omer spricht, ist vielen auch unter dem kurdischen Namen Rojava-Revolution bekannt und wurde inzwischen in Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien umbenannt. 2012 erklärten sich zahlreiche Regionen für unabhängig vom syrischen Staat und verwalten sich seitdem in kommunal organisierten Nachbarschaften, Stadtteilen oder Dörfern selbst. Die Gleichberechtigung von Frauen ist eine wesentliche Grundlage des basisdemokratischen Projekts. Dafür wurden im vergangenen Jahrzehnt zahlreiche Frauen- und Familiengesetze erlassen, für die vor allem Frauen gekämpft hatten.
Schritt für Schritt wurden Institutionen und Organisationen aufgebaut, um gegen die strukturelle Verankerung patriarchaler Gewalt anzukämpfen. Die »Mala Jin« haben hierbei eine große Bedeutung erlangt. In diesen kommunalen Frauenzentren bieten Frauen Beratungen an oder versuchen, in Konflikten durch Mediation konsensuelle Lösungen zu finden.
Eines dieser »Mala Jin« befindet sich in einer ruhigen Nebenstraße in Qamishlo. In dem unscheinbaren Gebäude kommen täglich viele Menschen zusammen, um ihre Probleme zu lösen. In einem hinteren Zimmer im ersten Stockwerk sitzt Behiya Mûrad, die bereits seit zehn Jahren in dem Haus mitarbeitet, und beschreibt ihre Arbeit: »Das ›Mala Jin‹ ist ein Ort für Frauen – egal welcher Herkunft und in welcher Lebenslage. Es ist ein Ort der gemeinsamen Solidarität, Unterstützung und Zusammenarbeit.« Oft geht es um Gewalterfahrungen, um Streit in Ehe und Familie oder auch um Überforderungen und Krankheiten. »Wir setzen uns hier zusammen, hören ihnen zu, schauen, was ihre Probleme sind, was ihnen auf dem Herzen liegt, und versuchen, Lösungen zu finden.« Behiya Mûrad betont, dass die Frauenzentren auch Familien und Männer in die Mediationen einbeziehen.
Das »Mala Jin« in Qamishlo wurde im März 2011 eröffnet. »Uns war es wichtig, eine soziale Grundlage aufzubauen, auf der wir die Rechte der Frauen verteidigen können, auch angesichts des anhaltenden Krieges«, erzählt Behiya Mûrad. »Es gibt viele Probleme, vor denen wir damals wie heute stehen. Mit dem Zentrum wollen wir dazu beitragen, Frauen zu verteidigen und ihr Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen zu stärken.«
Solche Frauenzentren gibt es mittlerweile in allen selbstverwalteten Regionen. Sie arbeiten eng mit den Gremien der Selbstverwaltung zusammen. Durch ihre Kampagnen, Präsenz und Mediationen haben die »Mala Jin« einen erheblichen Beitrag dazu geleistet, dass Gewalt an Frauen häufiger thematisiert und nach Lösungen gesucht wird. Die Verantwortung dafür wird inzwischen nicht mehr alleine bei den Frauen gesehen. Im Fokus stehen jetzt auch die Männer; sie werden dazu aufgefordert, ihr Verhalten und ihre Einstellungen zu ändern. Aber das ist nicht immer leicht. »Es ist nicht das ›Mala Jin‹, das die Entscheidung trifft«, berichtet Ilham Omer, »sondern es ist ein Aushandlungsprozess, dem am Ende alle Seiten zustimmen müssen. Dass eine Lösung nur von einer Seite akzeptiert wird und von der anderen nicht, gibt es nicht. Es ist ein gemeinsamer Prozess, der eine Entscheidung erarbeitet, die damit auch anerkannt wird.«
Bei schweren Fällen wie Gewaltanwendung wird jedoch nicht immer bis zum Schluss diskutiert. »Wenn es zum Beispiel konkret um Fälle von Gewalt an Frauen geht, bei denen der Mann nicht bereit ist, sich auf den gemeinsamen Lösungsweg einzulassen, ist es etwas anderes«, sagt Ilham Omer. »Dann schreibt das ›Mala Jin‹ einen Fallbericht, der an den juristischen Rat der Region geschickt wird.« Der ziehe dann die notwendigen Konsequenzen auf Grundlage des Berichts.
Bei besonders schwerwiegenden Delikten, in denen auch eine Mediation nicht mehr weiterhelfen kann, gibt es eine enge Zusammenarbeit mit der gemeinnützigen Organisation Sara. Diese verfolgt und beobachtet Gerichtsprozesse und bringt Sexualverbrechen und Mord an Frauen auch selbst vor Gericht. »Wir begleiten Frauen in Gerichtsverfahren, um sie zu unterstützen und zur Aufklärung der Wahrheit beizutragen«, erzählt Arzu Temo, Aktivistin von Sara. »Außerdem geben wir Schulungen und Seminare, um das Wissen über die Rechte von Frauen zu stärken.« Sara organisiert auch Öffentlichkeits- und Aufklärungskampagnen gegen patriarchale Gewalt, um Wege und Methoden zu deren Bekämpfung aufzuzeigen.
Neben den Angeboten zur Gewaltprävention, Beratungs- und Schutzangeboten spielt Bildung eine wichtige Rolle, um die althergebrachten Herrschaftsverhältnisse im Denken zu reflektieren und aufzubrechen.
Dies hat sich auch die Stiftung der freien Frau in Syrien (WJAS) zur Aufgabe gemacht. In ihrem Stiftungsgebäude in Qamishlo befinden sich auf zwei Etagen eine Näh- und Strickwerkstatt, Sport- und Musikräume, Büros, Sitzungsräume und eine Bibliothek. Auf der anderen Straßenseite liegen ein kleiner Verkaufsladen und der eigene Kindergarten für die Kinder der Mitarbeiterinnen. Es ist ein quirliges Treiben im Gebäude. Eine Schar junger Frauen kommt aus dem Sportraum. Die Frauen aus den Werkstätten sitzen bei einem frisch aufgebrühten Mokka im Eingangsraum zusammen. »Wir lachen, weinen und teilen unsere Schmerzen miteinander«, berichtet Sultan Xişo aus dem Vorstand der Stiftung mit strahlenden Augen. »Wir ziehen Kraft und Energie aus der Gemeinschaft. Mit den Herausforderungen gewinnen wir an Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein, spüren unsere eigene Kraft, und dass wir etwas können. Das hat Auswirkungen auf die Familien und die gesamte Gesellschaft.«
Sultan Xişo hat Geschichte studiert. Nachdem sie ein Kind bekommen hatte, war sie auf der Suche nach einem neuen, passenden Platz, um sich als Mutter und Frau in die Gesellschaft einzubringen, und fand schließlich die Stiftung. WJAS hat inzwischen 16 Sitze über die gesamte Region verteilt. Es sind Orte geworden, an denen Frauen zusammenkommen können, um sich auszutauschen und weiterzubilden.
Dies ist ein Verdienst der Rojava-Revolution. Zu Recht wird sie weltweit immer wieder als »Frauenrevolution« bezeichnet und als feministisches Projekt beschrieben. Über die Jahre hinweg haben sich Frauen immer weiter organisiert und wirken inzwischen in alle Lebensbereiche hinein. Sie haben eigene wirtschaftliche Kooperativen, Bildungsakademien und Forschungszentren aufgebaut, Räte, Kommunen und Kommissionen errichtet sowie Verteidigungsstrukturen wie die Fraueneinheiten YPJ geschaffen. Mit Projekten, die auf die Situation der Frauen zugeschnitten sind, wurde ihr Selbstbewusstsein gestärkt. Eine Frauenbewegung wurde aufgebaut, die in die Gesellschaft ausstrahlt und patriarchaler Gewalt auf struktureller Ebene entgegenwirkt.
Doch die Errungenschaften dieses Wandels sind in Gefahr. Denn die Region wird seit Jahren von der Türkei angegriffen, die als Nato-Mitglied ein enger Verbündeter Deutschlands ist. Anfang Oktober 2023 intensivierte die türkische Armee ihre Angriffe. Gezielt wurde lebensnotwendige Infrastruktur wie Wasser- und Stromversorgung, Getreidesilos sowie ein Krankenhaus zerstört. Diese Angriffe, die international als Kriegsverbrechen gelten, sind auch gegen Frauen gerichtet. »Frauen, die politisch aktiv sind und einen starken Willen haben, werden gezielt ermordet«, berichtet Ilham Omer. »Die Politikerin Hevrin Xelef, die beiden arabischen Lokalpolitikerinnen Saada al-Hermas und Hind al-Khedr aus der Region Heseke sowie die Ko-Vorsitzende der Selbstverwaltung des Kantons Qamishlo, Yusra Darwish, und ihre Stellvertreterin Lîman Şiwêş sind nur einige Beispiele.« Mit diesen Femiziden wird die Organisierung der Frauen angegriffen und es wird versucht, ihren gemeinschaftlichen Willen zu brechen.
Trotz dieser alltäglichen Bedrohung kämpft Ilham Omer weiter für ein freies Leben – und mit ihr Tausende Frauen in Nord- und Ostsyrien genauso wie viele Millionen Menschen weltweit, die am »Internationalen Tag gegen patriarchale Gewalt« ihre Wut auf die Straßen tragen. Ihren Blick in die Zukunft gerichtet, betont sie zum Abschluss: »Die Organisierung der Frauen wird stärker. Überall auf der Welt, egal wo sie leben.«
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