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Der Sprachzauberer
Gunnar Decker macht mit seiner Biografie Lust, sich auf Rainer Maria Rilke einzulassen
Er wird geliebt, verehrt und gemieden. Die einen flechten ihm Kränze, andere ignorieren ihn oder werden nicht müde, an seinem Podest zu rütteln. So war es schon immer. Für Harry Graf Kessler war er der »Salonlöwe«, Thomas Mann sprach von »adligem Getu« und »frömmelnder Geziertheit«, und Peter Rühmkorf meinte: »Ich schätze ihn hoch, aber ich kann ihn nicht leiden.«
Dieser Satz über Rainer Maria Rilke, changierend zwischen Lob und Abwehr, dokumentiert noch die mildeste Form der Kritik. Ganz anders Karl Krolow, der 1975 sein Plädoyer für den Hundertjährigen mit einem Dank an den Suhrkamp-Verlag für seine unbeirrte Treue zu seinem Stammautor verband. Rilke, lange abgeschrieben von Germanisten, Kritikern und Lesern, war vielen zu bürgerlich, altmodisch und zeitenfern.
Die Götter hießen damals Brecht und Benjamin. Es dauerte eine Weile, dann meldeten sich Biografen zu Wort, um ihn endlich kenntlich zu machen, zuerst Wolfgang Leppmann, dann der Engländer Donald A. Prater und, in zwei starken Bänden, der in den USA lebende Ralph Freedman, schließlich auch Fritz J. Raddatz, dem 2009 mit einem schlanken, schwungvollen Essay ein temperamentvolles Rilke-Porträt gelang.
In diese Reihe stellt sich nun auch Gunnar Decker, einer der besten Autoren in diesem Metier, der seinen Ruf als glänzender Biograf mit Büchern über Franz von Assisi, van Gogh, Fühmann, Georg Heym, Trakl, Hesse, Benn und Barlach schon mehrmals unter Beweis stellte. Er hat sich dem Dichter mit einer bestechenden Studie über Rilke und die Frauen vor Jahren schon einmal genähert, jetzt entwirft er, »voller Hochachtung vor der Dichtung, die sich in manchen Augenblicken dem vollkommenen Sprachausdruck annähert« und fernab aller Verklärung, auch die ganze Lebensgeschichte.
Deckers Rilke ist ein Mann, der nicht zur Ruhe kommt, erzogen von einer frömmelnden Mutter, die ihn als Mädchen kleidet, immer umgeben von Frauen, die andächtig zu seinen Füßen sitzen, die ihn fördern und unterstützen (und denen er einige seiner schönsten Gedichte widmet), ein präziser Arbeiter und hochartifizieller Dichter, der es trotz ständiger Geldsorgen als Dauergast in Schlössern zu einem komfortablen Leben bringt, sich aber auch den Blick für Armut bewahrt, für die Einsamen, Ausgestoßenen, Verachteten, die er 1910 in einem ergreifenden Buch schildert. Phasenweise, schreibt Decker mit Recht, zählen »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge «zur intensivsten Prosa», die die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts kennt. Dieses Erzählwunder, das von der zeitgenössischen Kritik verständnislos abgelehnt, mit Hohn und Spott übergossen wurde, ging allen Büchern voraus, die die Existenz des modernen Menschen erkundeten und in einem Kaleidoskop von Bildern und Szenen auf einzigartige Weise seine Gefährdung, seine existentielle Not und seine Einsamkeit beschrieben.
Decker hütet sich, seine Biografie mit Werkanalysen zu befrachten, aber er würdigt immer wieder Rilkes Kunstleistung, im «Malte» genauso wie in den «Duineser Elegien» oder den «Sonetten an Orpheus». Er zeigt den Dichter, wie er um seine Dichtung ringt, und den Beobachter der Zeitläufte, das ewige Leben in Hotels und prachtvollen Anwesen, sein Alleinsein, das er liebte und das ihm auch wieder auf die Nerven ging und wie er schließlich das Mönchische kultivierte und die Dichtung weiter ins Hermetische trieb. Er erzählt das schwierige Verhältnis zur Mutter, die Beziehung zur verheirateten Lou Andreas Salomé, Geliebte und Mutter zugleich, die Ehe mit der Bildhauerin Clara Westhoff, die auch als Künstlergemeinschaft nicht gelang, die Selbstinszenierung als armer Dichter, der sein Leben mit Hilfe bewundernder Frauen bewältigte.
Die wichtigste, die hier ihren angemessenen Platz findet, wurde am Ende Nanny Wunderly-Volkart, die schlichte, großzügige und starke Beschützerin, die ihm selbst extravagante Bitten nicht ausschlug, von allen kunstsinnigen Frauen, die ihm ihre Zuneigung schenkten und die er gnadenlos für sich in Anspruch nahm, in den letzten Jahren und Tagen die treueste Helferin. Schon mit den «Duineser Elegien», die Anfang 1922 fertig waren und ihn noch einmal in Hochstimmung versetzten, hatte sich Rilke von der Welt, die ihm immer unerträglicher wurde, verabschiedet. Weil ihm das militante Deutschland zutiefst verhasst war («Wirklich, es giebt nichts, wozu ich in leidenschaftlicherem Gegensatz stände, als dieses ›Reich‹»), zog es ihn gleich nach dem Ersten Weltkrieg in die Schweiz. Dort, in Val-Mont, ist er, leidend und krank seit Langem, Ende 1926 mit nicht einmal 51 Jahren gestorben.
Decker, stilistisch wieder bewundernswert, beschreibt dieses Dasein, das Leben fürs Werk, das dem fortschreitenden körperlichen Verfall abgetrotzt werden musste, mit imponierender Eindringlichkeit. Er sieht den Dichter als modernen Mystiker, Gottsucher und Sprachzauberer, übersieht nicht den hinreißenden Briefschreiber, streift genauso dessen politische Äußerungen und verschweigt auch Rilkes skurrile Eigenschaften nicht.
Diese Biografie will (und kann) nicht die letzten Rätsel lösen, aber sie macht große Lust, sich auf diesen singulären Poeten einzulassen.
Gunnar Decker: Rilke. Der ferne Magier. Siedler, 608 Seiten, geb., 36 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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