Nahost-Konflikt: Die Todeswelt des Kapitalismus

Linke müssen sich zwischen die Stühle setzen – auch und gerade in Hinblick auf den Nahost-Konflikt. Eine Streitschrift

  • Redaktion Communaut
  • Lesedauer: 5 Min.
Der Schlüssel für die Lösung der Weltmisere liegt nicht in der Errichtung eines palästinensischen Staates. (Nakba-Symbol in Gaza, 2018)
Der Schlüssel für die Lösung der Weltmisere liegt nicht in der Errichtung eines palästinensischen Staates. (Nakba-Symbol in Gaza, 2018)

Die erdrückende Mehrheit der Linken weltweit presst den Nahost-Konflikt in ein antikoloniales Schema von bezaubernder Schlichtheit. Für sie ist die Geschichte Israels nichts weiter als imperiale Knechtung der angestammten Bevölkerung, die Geburt des jüdischen Staates aus antisemitischer Verfolgung und Massenvernichtung kommt in diesem Bild so wenig vor wie der gehörige Anteil, den die arabische Reaktion in all ihren Varianten – vom stramm autoritären Staatssozialismus bis zum Djihadismus – an der verfahrenen Lage hatte und hat.

Dass etwa die massenhafte (und durch nichts zu rechtfertigende) Vertreibung von Palästinenser*innen im Jahr 1948 im Zuge eines Krieges erfolgte, der mit einem Überfall auf Israel durch seine arabischen Nachbarstaaten begann; dass diese Menschen aus einem perfiden Kalkül heraus kaum irgendwo integriert worden sind und ihre Kinder und Kindeskinder bis heute in Flüchtlingslagern ausharren müssen; dass das vehement eingeklagte Recht auf »Rückkehr« nach völkischer Logik auf diese Kinder und Kindeskinder ausgeweitet wird – das alles macht das Bild zu kompliziert fürs antikoloniale Gemüt und wird daher beschwiegen.

Imaginierte Kollektivsubjekte

»Palästina«, ein Kollektivsubjekt, das weder Klassen noch politische Fraktionen kennt, handelt in dieser Optik durchweg mit der astreinen Legitimation des kolonial Unterdrückten. Im schlimmsten Fall gerät so selbst ein Blutbad, wie die Hamas es am 7. Oktober angerichtet hat, zum gerechtfertigten Akt des Widerstands, der Befreiung. Über den Bankrott solcher Linken, von geistig verlotterten Intellektuellen bis zu Hausbesetzer*innen in Berlin-Friedrichshain, braucht man nicht viele Worte zu verlieren.

Eine etwas weniger drastische Variante besteht darin, den von der Hamas verübten Massenmord zwar nicht unbedingt gutzuheißen, ihn aber mit keiner Silbe zu erwähnen. Er taucht in den aktuellen Aufrufen zu propalästinensischen Demonstrationen praktisch nicht auf, so als würde das israelische Militär den Gazastreifen gerade aus lauter Jux und Dollerei unter Beschuss nehmen. Dabei müssten eigentlich gerade Leute, die sich mit der elenden Lage der palästinensischen Bevölkerung nicht abfinden wollen, der Hamas die Pest an den Hals wünschen. Sie übt eine Terrorherrschaft aus, und die massiven israelischen Militärschläge hat sie bei ihrem Massaker eiskalt einkalkuliert.

Diese schlichte Feststellung dient anderen Fraktionen der Linken dazu, Israels rücksichtslosem Vorgehen im Gazastreifen die höhere Weihe der antifaschistischen Notwendigkeit zu verleihen. Von der übergeschnappten Bahamas-Truppe, die zur Kollektivbestrafung der Bevölkerung in Gaza aufruft, weil die alliierten Flächenbombardements deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg ja schließlich auch spitze gewesen seien, soll nicht weiter die Rede sein. Sie ist das Spiegelbild der Inhumanität der Hamas-Claqueure und fühlt sich schon seit Langem pudelwohl auf der anderen Seite der Barrikade.

Aber weit darüber hinaus ist das, was in den späten 1980er Jahren als überfällige Selbstkritik einer rabiat »antizionistischen« Linken begonnen wurde, längst seinerseits zur Ideologie verkommen. Aus der Kritik des »Antisemitismus von links« wurde die Apologie des Staates Israel. Wenn die Jungle World kurz nach dem Hamas-Massaker mit der Schlagzeile »Israel oder Barbarei« aufwartet, spricht sie unbewusst die trostlose Wahrheit über ein Milieu aus, für das die Verteidigung des jüdischen Staates und darüber hinaus der westlich-demokratischen Welt by all means necessary den Platz des Sozialismus einnimmt.

Windschiefe Weltbilder

Und wiederum spiegelbildlich zur Idiotie des antikolonialen Freund-Feind-Schemas sind auch hier gewaltige Verdrängungsleistungen nötig, um das windschiefe Weltbild aufrechtzuerhalten. Dass die extremistischen Siedler im Westjordanland allein in der Woche nach dem Hamas-Massaker 51 Menschen ermordet haben, wie üblich mit stillschweigender Billigung der israelischen »Sicherheitskräfte«, ist keiner Rede wert. So etwas nennt man normalerweise ein Pogrom, und ein Pogrom taugt schlecht als Gegenteil von Barbarei. Der massive Rechtsruck innerhalb der israelischen Politik und der weit fortgeschrittene autoritäre Staatsumbau, der selbst hartgesottenen Antideutschen kurzzeitig und hinter vorgehaltener Hand ein paar kritische Töne in Richtung der Regierung Netanyahu abgerungen hat, wird im Kriegstaumel genauso vergessen wie sämtliche anderen Ereignisse der letzten Jahre, die das eigene Narrativ konterkarieren könnten.

Regierungspersonal, das freudig von einer »Gaza-Nakba« schwärmt, und IDF-Sprecher, die offen zugeben, dass die Gegenoffensive nicht auf Treffsicherheit, sondern maximale Zerstörung ausgelegt ist, kommen in der Erzählung der Israel-Fans ebenso wenig vor wie die Ereignisse, die der jetzigen Eskalation vorhergegangen sind: die Angriffe von Siedlermobs auf Huwara, die Tötung von 181 Palästinensern im Westjordanland (die höchste Zahl seit 18 Jahren), Netanjahus Präsentation seines Plans für einen neuen Nahen Osten (ohne Palästina) vor der UN, die Provokationen am Tempelberg etc. Aus der richtigen und ziemlich banalen Feststellung, dass der Terror der Hamas nicht einfach nur eine (womöglich noch legitime) Reaktion auf Israels Politik ist, wird von diesen Linken die groteske Konsequenz gezogen, von der tatsächlichen Politik der israelischen Rechtsregierung vollends zu abstrahieren.

Über die Autor*innen

»Communaut« ist ein sozialrevolutionäres Journal, das von verschiedenen Gruppen und Einzelpersonen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz betrieben wird. Wir verstehen uns als antiautoritär-kommunistisch und streiten gemeinsam für eine klassen- und staatenlose Weltgesellschaft. Zu diesem Zweck veröffentlichen wir Analysen von Kämpfen, Interventionen in Debatten, aber auch Beiträge, die die Klärung grundlegender Fragen kommunistischer Theorie, Praxis und Organisation fördern.

Für den antinationalen Klassenkampf

Und so weiter und so fort: Anschauungsmaterial für die Ideologiekritik einer Linken, die sich offenbar zur arbeitsteiligen Sabotage der Weltrevolution verschworen hat, gibt es zurzeit noch mehr als üblich. Wir halten dagegen fest, dass nur der antinationale Klassenkampf einen Ausweg aus der Katastrophe bietet. Das ist so richtig, wie es fürs Erste hilflos bleibt. Die Morde an israelischen Zivilist*innen werden eine Klassenverbrüderung über nationale Grenzen hinweg so wenig fördern wie das massenhafte Grauen im Gazastreifen, das das israelische Militär gerade verursacht. Insofern gilt für unser Statement, was für jede sozialrevolutionäre Regung gerade gilt. Wir stehen im Abseits der Geschichte, müssen uns von der eigenen Ohnmacht aber nicht dumm machen lassen.

Dieser Text wurde verfasst als Vorwort zu einer nationalismuskritischen Stellungnahme der Gruppe Internationalist Perspective zum Nahost-Konflikt. Beides ist zu finden unter:
communaut.org/de/die-todeswelt-des-kapitalismus

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