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Konflikt im Nahen Osten: Vergangenheitsentsorgung
»Free Palestine from German Guilt« – Nachdenken über eine Demonstrationsparole
Den Spruch »Free Palestine from German Guilt« gibt es nur auf deutschen Straßen, allerdings nicht auf Deutsch. Er funktioniert nur auf Englisch. Mit gutem Grund. »Free Palestine from German Guilt« wurde vornehmlich von englischsprachigen Personen propagiert, nicht von deutschen Demonstrationsteilnehmer*innen der letzten Wochen. Er löst Irritation aus. Und Missinterpretation. Der Kabarettist Serdar Somuncu verortet die Parole korrekterweise im Kontext propalästinensischer Demonstrationen, mag darin jedoch lediglich israelfeindliches Geplärre ausmachen, womit er im Konsens mit der medialen Mehrheitsmeinung ist. Der Leiter des Deutschen Historischen Museums in Berlin, Raphael Gross, meint sogar gegenüber dem »Spiegel«, die Parole, die bereits anlässlich der Auseinandersetzungen um die Documenta 15 gefallen ist, sei »vielleicht der perfideste Angriff auf die mühsam und gegen viele Widerstände erkämpfe Auseinandersetzung Deutschlands mit dem Holocaust«. Vielleicht? Vielleicht auch nicht.
»Free Palestine from German Guilt« stammt nur oberflächlich betrachtet aus dem Wortfeld der revisionistischen Niedertracht wie »Schuldkult« – ein Lieblingsbegriff mehrerer AfD-Abgeordneter. Gross irrt sich auch, wenn er im »Spiegel«-Gespräch weiter meint, der Demo-Spruch verbinde sich »mit merkwürdigen Konstellationen, wie derjenigen von Hubert Aiwanger, der ausgerechnet heute vor zugewandertem Antisemitismus warnt«. Es sind Demonstrationsbeobachtungen zufolge besonders junge Israelis oder Palästinenser*innen, die hier leben, die diesen Spruch propagieren. Er verbindet sich nicht mit dem rechten Revisionismus, sondern attackiert diesen und sieht in ihm sogar einen hegemonialen Diskurs in Deutschland. Tatsächlich ist die Rede vom »importierten Antisemitismus« längst in der Mitte der bundesrepublikanischen Parteienlandschaft angekommen, wenn die bürgerliche Mitte restriktive Migrationspolitik mit Antisemitismusabwehr verknüpft.
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
»Free Palestine from German Guilt« heißt nämlich nicht, Deutschland von deutscher Schuld zu befreien, was konservative bis rechtsradikale Akteure seit jeher sich wünschen. Die Parole negiert auch nicht den Tatbestand deutscher Schuld an den Juden und anderen Opfergruppen des Faschismus. Demnach stellt sie keine Form der Schuldabwehr dar, sondern skandalisiert eine im deutschen Diskursraum anzutreffende Verschiebung der deutschen Schuld auf ein anderes Objekt. Damit ruft sie zur Verweigerung wohlfeiler deutscher Positionen auf. Eigentlich ist sie im strikten Wortsinn sogar »antideutsch«. Sie attackiert das Exportieren und Verklappen des originär deutschen Antisemitismus in den Orient.
Dass ausgerechnet der bayerische Populist Aiwanger, der in Schülerzeiten mit einem pronazistischen Flugblatt im Tornister ertappt wurde, den Antisemitismus vorrangig bei Zugewanderten ausmachen will, bestätigt den Bedeutungsinhalt der Demonstrationsparole. Sie ruft ins Gedächtnis, dass es seit den 50er Jahren für die bundesrepublikanische Mehrheitsgesellschaft und ihre führenden Volksvertreter mehr als bequem war, vordergründig philosemitisch motiviert, Israel jede Unterstützung zuzusagen. Dies wurde als Lehre aus dem Holocaust verkauft. Dass im fernen Nahen Osten ein Kampf um Land tobte, bei dem die Palästinenser – salopp gesagt – den Kürzeren zogen, musste den Bundesbürger, der zuweilen noch auf dem arisierten Sofa saß, nicht weiter jucken.
Angela Merkels Bekräftigung von 2008, dass die Unterstützung Israels deutsche Staatsräson sei, spitzte diese bundesrepublikanische Logik lediglich zu. Diese Art der Vergangenheitsbewältigung vergaß gewollt und systematisch die Palästinenserinnen und Palästinenser. Es war die internationalistische neue Linke, die dagegen Front machte und gleichzeitig am stärksten auf Widerstände traf, wenn sie die personellen und strukturellen Kontinuitäten der BRD-Gesellschaft zum Faschismus attackierte.
Für den »Bild«-Herausgeber Axel Springer wie für den ersten Bundeskanzler der BRD Konrad Adenauer war die Verknüpfung der »Schuld von gestern« mit dem Hofieren Israels als Bollwerk des Westens in feindlicher Umgebung charakteristisch. Wünschte sich Springer von Deutschland eine »besondere Liebe« zum jüdischen Volk und im Geiste »männlicher Nahost-Politik« eine Unterstützung aller Kriege Israels, so transformiert sich jüngst diese deutsche Nahost-Politik im Geiste »feministischer Außenpolitik« sprachlich ein wenig – im Kern bleibt sie gleich. So erfolgten erst sehr spät kritische Worte der deutschen Außenministerin an die israelische Regierung bezüglich deren Kriegsführung in Gaza.
Einige rufen besten deutschen Gewissens vermeintlich antifaschistische Erfahrungen an, um sich diskursiv hinter einen offensichtlich grausamen Luft- und Bodenkrieg gegen eine schutzlose Zivilgesellschaft zu stellen. Tatsächlich gab und gibt es eine Reihe von Beispielen, die darauf verweisen, dass deutsche Akteure eine Form der Exkulpation betreiben, indem sie Palästinenser als neue Nazis ausmachen. Unmittelbar nach dem 7. Oktober konnte man vornehmlich von deutschen Menschen, die sich »links«, »progressiv« und »anti-antisemitisch« fühlen, Vergleiche der Zivilbevölkerung von Gaza mit der deutschen Volksgemeinschaft von Dresden und Hamburg hören. Die historisch mehr als schiefe Parallele sollte ein hartes Vorgehen der israelischen Armee legitimieren. Opfer bei der Zivilbevölkerung wurden nicht nur in Kauf genommen, sondern als Notwendigkeit ausgegeben.
Die Logik des früheren israelischen Premiers Naftali Bennett, der in einem Interview mit dem britischen Sender Sky News Israels Kriegsführung mit der Bombardierung von Dresden im Zweiten Weltkrieg verglich, wurde in Deutschland von einem kleinen Teil der ehemaligen Linken, die sich »Antideutsche« nennen, es jedoch im Wortsinn nicht sind, bei jedem Luftkrieg seit dem Golfkrieg 1991 über den Irak-Krieg 2003 bis zum jetzigen Gemetzel in Gaza artikuliert. Sie lautete stets genau so, wie Bennett es formulierte: »Wir bekämpfen Nazis.«
In Israel selbst ist der instrumentelle Vergleich der Bevölkerung von Gaza mit der deutschen Nazi-Volksgemeinschaft eine Form der Kriegslegitimation und des Bellizismusdiskurses. In Deutschland trifft er den Nerv der deutschen Schuld. Ein historisch wie aktuell politisch informierter Zeitgenosse, der nicht von Exkulpationsbedürfnissen angetrieben ist, würde diese Parallelen freilich zurückweisen: Die Bevölkerung von Gaza ist weit weniger mit der Herrschaft der Hamas über Gaza einverstanden als es die deutsche Bevölkerung der 40er mit dem Führer war. Nazi-Deutschland hatte Guernica, Coventry und London zuerst in Schutt und Asche gelegt, die Deutschen erfreuten sich bis Stalingrad an den Blitzkriegen und der Kriegsbeute. Sie mit der seit Jahrzehnten eingepferchten Bevölkerung des Gazastreifens zu vergleichen, ist absurd. Für so manchen scheint dem Vergleich aber psychodynamisch ein Zweck zuzukommen, der in der klaren, bedingungslosen Unterstützung Israels besteht, die als Lehre aus der Vergangenheit reüssieren soll.
Für einige Zeitgenoss*innen sind die Bewohner Gazas sogar schlimmer als die Nazis. Der sozialdemokratische Gesundheitsminister Karl Lauterbach schloss sich begeistert den Statements des rechten Influencers Douglas Murray an, die dieser im britischen Fernsehsender Talk TV von sich gegeben hatte. Murray meinte in dem Interview, man könne die Hamas nicht einfach mit den Nazis vergleichen, sie sei weit schlimmer, denn selbst die Nazis schämten sich für ihre Taten: »SS-Bataillone, die ihre Tage damit verbrachten, Juden in den Hinterkopf zu schießen und sie in Gräben zu werfen, mussten sich sehr, sehr betrinken, um zu vergessen, was sie getan hatten.« Die Taten der Hamas-Kämpfer jedoch, so Murray, seien mindestens so barbarisch wie die der Nazis, aber es gebe einen wesentlichen Unterschied: »Sie taten es mit Vergnügen.«
Lauterbachs Kommentar ist vielsagend, es werde hier »viel ausgesprochen, was sonst nur gedacht wird«. Auch der »Spiegel«-Kolumnist Jan Fleischhauer erklärte: »Das ist großartig.« Ebenso äußerten sich die schleswig-holsteinische Bildungsministerin Karin Prien (CDU) sowie die Wirtschaftsprofessorin Veronika Grimm auf der Plattform X, vormals Twitter.
Muss man wirklich die Hurray applaudierenden deutschen Politiker und Influencerinnen an die feixenden Bilder der mordenden Wehrmachtssoldaten erinnern? An die bartlosen Nazi-Jüngelchen in Uniform, die alten Juden aus dem osteuropäischen Schtetl, bevor sie sie umbrachten, höhnisch lachend die Bärte abschnitten? Hier wird von Lauterbach, Fleischhauer, Prien und Grimm der Sadismus Hitlers williger Vollstrecker, wie sie der US-amerikanische Soziologe Daniel Goldhagen nannte, schlicht geleugnet, Geschichtsklitterung betrieben, die deutsche Schuld relativiert.
Die Demonstrationsparole ist in dieser Hinsicht mehr als aufklärerisch und wirkt subversiv. Sie verweist darauf, dass »Palästina« etlichen Deutschen aktuell eine Projektionsfläche ist, um eine spezifische, nicht rechtsradikale, sondern rechts-liberale Form des sekundären Antisemitismus als Schuldverschiebung zu kultivieren. Hatten 2002 die Sozialpsychologen und Historikerinnen Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall das manipulierte Familiengedächnis der normalen Deutschen mit »Opa war kein Nazi« zusammengefasst, so gibt es aktuell etliche Deutsche, deren Entlastungsbedürfnis in Haltungen kulminiert, die entweder wie Bundeswirtschaftsminister Habeck auf den Nazi-Großvater verweisen und gerade aus dessen antisemitischer Raserei eine angeblich jetzt gebotene bedingungslose Unterstützung Israels oder restriktive Ausländerpolitik ableiten oder wie Lauterbach die Generation der Großeltern als weniger schlimm als die Palästinenser erachten wollen.
Die Demonstrationsparole attackiert diese Mischung aus moralisch kaschierter Interessenpolitik und überdrehter Vergangenheitsentsorgung. Sie geht aber dann fehl, wenn sie meint, die Geschichte Palästinas von jedem Judenhass und jedem Antisemitismus freisprechen zu können. Von arabischen Pogromen gegen Juden im Jahr 1929 über den antiisraelischen und antijüdischen Krieg von 1948 bis zur Verweigerungshaltung gegenüber jüdischer Existenz im historischen Palästina, wie sie das Massaker vom 7. Oktober 2023 blutig ratifizierte, existiert eine reaktionäre Tendenz auf arabischer Seite, der linke Demonstrationsparolen ebenfalls gerecht werden müssten. Das ist aber ein anderes Thema.
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