Freihandelsabkommen: Europas Umarmungsstrategie

Mit Freihandelsabkommen will die EU alte Abhängigkeiten verringern und neue schaffen

Die Enttäuschung ist spürbar in Europas Hauptstädten. Auf dem laufenden Treffen des lateinamerikanischen Wirtschaftsbündnisses Mercosur in Rio de Janeiro hätte eigentlich die Einigung über ein Freihandelsabkommen mit der EU verkündet werden sollen. 20 Jahre hatte man miteinander gerungen, seit vier Jahren ist man sich grundsätzlich einig. Doch aus Argentinien und Frankreich kommen nun neue Einwände, die das Abkommen verzögern oder sogar einfrieren könnten. Für die EU steht viel auf dem Spiel. Denn in Handelsfragen geht es ihr nicht mehr nur um Exporte, Investitionen und Profite, sondern auch um Macht. Die EU brauche dringend einen »Weg aus der Sackgasse für geostrategisch wichtige Abkommen mit anderen Partnern«, so die Denkfabrik Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

Nichtregierungsorganisationen kritisieren die EU häufig dafür, sie treibe Freihandelsabkommen mit aller Welt voran und setze dabei den Zugang zu ihrem Riesenmarkt als Erpressungsmittel ein. Die EU wiederum betonte stets, sie ziele lediglich auf die Ausweitung der internationalen Arbeitsteilung, um Effizienz- und Wohlstandsgewinne für alle Seiten zu ermöglichen. Inzwischen allerdings haben sich die Zeiten gewendet, und Handelsfragen werden offen als Machtfragen gestellt. »Regierungen rund um die Welt geben geopolitischen Erwägungen den Vorrang vor Effizienz- und Handelsgewinnen«, so das Münchener Institut für Wirtschaftsforschung (Ifo).

Das Ifo bricht sich weltweit ein »ökonomischer Nationalismus« die Bahn. Allerdings haben Regierungen Handelspolitik schon immer aus eigennützigen Motiven betrieben und nicht aus Uneigennützigkeit – insofern ist alles beim alten. Was Ökonom*innen als »wirtschaftlicher Nationalismus« beklagen ist jedoch die Tendenz, die Handelspartner als Gegner zu behandeln, deren Nutzen dem eigenen entgegensteht und die daher bezwungen werden müssen. In diesem verschärften globalen Machtkampf bilanziert die EU seit einiger Zeit einen doppelten Machtverlust: Erstens ist ihre eigene ökonomische Bedeutung geschrumpft, was andere Staaten unabhängiger von der EU macht. Zweitens ist Europa immer abhängiger vom Welthandel, also von der Kooperation anderer Staaten geworden.

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Die Weltwirtschaftsmacht steigt ab

Dieser Machtverlust ergibt sich vor allem gegenüber den USA und China. Selbst wenn man die Handelsströme zwischen den EU-Staaten ausklammert, ist die EU der weltgrößte Ex- und Importeur der Welt, vor den USA und China. »Die Bedeutung ausländischer Märkte für Europa ist stetig gewachsen«, erklärt das Ifo-Institut. Noch 1995 hingen zehn Prozent der EU-Wertschöpfung von ausländischer Nachfrage ab, 2019 waren es schon 17 Prozent. Für die USA liege dieser Anteil nur bei neun Prozent und für China bei knapp 14 Prozent. Zudem, so das Ifo, ist die Bedeutung des Auslands insbesondere für China in den vergangenen Jahren stark geschrumpft. Auch was die Importe angeht, werden die Volksrepublik und die Vereinigten Staaten immer unabhängiger vom Ausland.

Gleichzeitig ist die ökonomische Bedeutung der EU global gesunken. Seit Mitte der neunziger Jahre ist ihr Anteil an der Weltwirtschaftsleistung von 21 auf 15 Prozent geschrumpft. China hat die EU inzwischen überholt. Das ökonomische Gewicht der USA hat zwar ebenfalls abgenommen, doch bleiben die Vereinigten Staaten die weltgrößte Volkswirtschaft mit einem global dominanten Finanzmarkt.

Entsprechend geschrumpft ist damit Europas Einfluss in Handelsgesprächen, beispielsweise mit Lateinamerika. Mitte der neunziger Jahre, kurz bevor die Verhandlungen über ein Abkommen zwischen der EU und dem Mercosur aus Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay starteten, war die EU noch größer Handelspartner des Staatenbundes. Inzwischen hat China diese Position übernommen. Mit einem Mercosur-Außenhandelsanteil von über 27 Prozent liegt es deutlich vor der EU, die nur noch auf 16 Prozent kommt.

Zwar bleibt die EU eine ökonomische Weltmacht. Gegenüber China und den USA fällt sie jedoch zurück im verschärften Konkurrenzkampf um Rohstoffe, Vorprodukte und Absatzmärkte. Um weitere Staaten an sich zu binden, zielt die EU daher auf eine Ausweitung ihrer bilateralen Freihandelsabkommen, mit denen sie sich eine exklusive Stellung gegenüber ihren Vertragspartnern sichert. »Von derartigen Vereinbarungen profitieren vor allem die teilnehmenden Staaten, während sich der Marktzugang für andere Länder relativ verschlechtert«, erklärt das Ifo-Institut. Bereits jetzt hat die EU laut Welthandelsorganisation WTO 44 entsprechende Abkommen mit 77 Ländern ratifiziert, zuletzt mit Neuseeland. Ein Abkommen mit Chile soll Ende Dezember feierlich unterzeichnet werden.

Allerdings ist die handelspolitische Offensive Brüssels ins Stocken geraten. Die Verhandlungen mit dem Mercosur, mit Indien und Indonesien kommen wegen umstrittener Umweltauflagen nicht voran. Das Abkommen mit Australien ist kürzlich gescheitert, ebenso eine Einigung mit den USA über Stahlzölle und Rohstoffe. »Eine aktive Handelspolitik, vor allem wenn sie Verhandlungen über Marktzugang beinhaltet, ist derzeit keine Priorität für die Biden-Administration – nicht einmal mit wichtigen Partnern«, klagt der deutsche Industrieverband BDI und warnt bereits vor »Rückschritten in den transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen nach den US-Wahlen« – Stichwort Donald Trump.

Vor diesem Hintergrund immer wichtiger wird damit ein Erfolg des Abkommens mit den Staaten des Mercosur, mit deren Rohstoffen sich Europa unabhängiger von China und Russland machen will. Ein Scheitern des Abkommens wiederum, mahnt die Denkfabrik SWP, »würde vor allem China nützen, das einzelnen Mercosur-Staaten schon ein Handelsabkommen angeboten hat«.

Mit Menschenrechten »pragmatisch« umgehen

Auf Brüssel wächst daher der Druck, Abstand von seinen Nachhaltigkeitsforderungen zu nehmen, beispielsweise von Klauseln zum Schutz des Regenwaldes, gegen die sich die brasilianische Regierung wehrt. »Ohne die Extraforderungen der EU nach dem Schutz von Regenwald und hiesigen Bauern könnte das Mercosur-Abkommen längst in trockenen Tüchern sein«, kritisierte die »FAZ«. Und der Industrieverband BDI rät, die EU solle »pragmatische und innovative Lösungen für das Erreichen ihrer hohen Ziele in den Bereichen wie Umwelt, Menschenrechte und Arbeitsstandards finden«. Nur so bleibe die EU mit Partnern wie den Mercosur-Staaten, Indien oder Indonesien »abschlussfähig«.

Dem dürfte die EU-Kommission nachkommen, um ihr Netz aus globalen Handelsverträgen auszubauen und damit Europas Stellung gegenüber den USA und China zu festigen. Dem gleichen Zweck dienen die Pläne, den EU-Binnenmarkt zu stärken und zu vereinheitlichen. Denn er ist die Basis für Europas ökonomische Macht, mehr als die Hälfte des Handels wickeln die EU-Mitgliedsstaaten untereinander ab. »In einer Welt wachsender geoökonomischer Spannungen gewinnt der EU-Binnenmarkt immer mehr an Bedeutung«, erklärt das Ifo-Institut.

Und schließlich versuchen EU und ihre Mitgliedsstaaten, über die Vergrößerung der Union einen Zuwachs an ökonomischer und politischer Macht zu generieren. »An einem entscheidenden Punkt der europäischen und internationalen Ordnung beginnt die EU eine Erweiterung gen Osten«, schreibt die Brüsseler Denkfabrik CEPS. Es sei offensichtlich, dass ein Beitritt der Ukraine »substanzielle Veränderungen der EU-Politik wie auch ihres internationalen Einflusses bedeutet. Europas Größe und geopolitisches Gewicht werden beträchtlich zunehmen.«

Die kommende Woche könnte in dieser Hinsicht einige Weichenstellungen bringen: Auf dem Programm steht das Gipfeltreffen der EU und der Westbalkanstaaten. Zudem soll laut Plan offiziell die Aufnahme der Ukraine auf den Weg gebracht werden. Dagegen gibt es zwar noch Widerstand von Regierungen einzelner EU-Mitgliedstaaten wie Ungarn. Doch die EU-Kommission scheint festen Willens, die Erweiterung zu vollziehen. »In einer Welt, in der Größe und Gewicht zählen«, so Präsidentin Ursula von der Leyen, »liegt es ganz klar im strategischen und sicherheitspolitischen Interesse Europas, die Union zu vollenden.«

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