Große Gedanken und viele Visionen

Neue Dokumente aus dem Nachlass des Marxisten und Ökokommunisten Wolfgang Harich

  • Alexander Amberger
  • Lesedauer: 5 Min.
Wolfgang Harich in seiner Wohnung bei der Arbeit, um 1947
Wolfgang Harich in seiner Wohnung bei der Arbeit, um 1947

Er sollte sich auf mehreren Ebenen zu einer der schillerndsten Persönlichkeiten der DDR entwickeln – und wo es schillert, da fällt auch Schatten. Bei Wolfgang Harich, der am 9. Dezember vor 100 Jahren im damaligen Königsberg das Licht der Welt erblickte, gab und gibt es beides: große Gedanken und manch abwegige Visionen.

Der junge Wolfgang wuchs in Neuruppin auf. Über seine Kindheit und Jugend, Eltern und Familienwurzeln hat sich Harich selbst kaum geäußert. Bekannt war bisher, dass Mutter und Vater aus bildungsbürgerlichen Familien stammten und im Zeitungswesen tätig waren. Man kannte die Stationen seines Lebens und wusste, dass Wolfgang Harich seiner liebevollen Mutter näherstand als seinem autoritären Vater.

Im jüngst erschienenen 16. Band der »Schriften aus dem Nachlass Wolfgang Harichs« findet sich ein neues Puzzlestück zur Biografie: Unter dem Titel »Neuruppiner Jugendjahre« hat der Harich-Herausgeber Andreas Heyer ein autobiografisches Dokument veröffentlicht, dass Harich 1975 gemeinsam mit seiner Gesprächspartnerin Wibke Bruhns erstellt hat. Es handelt sich um ein Fragment. Harich schildert darin ausführlich die Geschichte seiner Vorfahren und schwärmt über seine Jahre in Neuruppin – für ihn »die wichtigste Stadt der Welt«, dank Fontane, Friedrich II. und vor allem Schinkels Architektur, die New York vorweggenommen habe. Der Text endet Anfang der 40er Jahre mit Betrachtungen zum Zweiten Weltkrieg und Schilderungen seines juvenilen Liebeslebens.

Die Familie war liberal gesinnt, mit Kommunisten konnte man nichts anfangen, mit den Faschisten noch weniger. Das half dem 18-jährigen aber nicht gegen Wehrmachtsuniform und Ostfrontverschickung. Harich hielt es dort nicht lange aus. Er entzog sich gleich zweimal dem Kriegsdienst; stellte sich krank, tauchte unter und versteckte sich in den letzten Kriegsmonaten in Berlin. Hier half er teils halsbrecherisch der kommunistischen Widerstandsgruppe »Ernst«.

Nach Kriegsende wurde Harich zum jungen, schillernden Superstar der Ostberliner Kunst- und Intellektuellenszene: Theaterkritiker, Philosophiedozent an der Humboldt-Universität, Chefredakteur der »Deutschen Zeitschrift für Philosophie«, auf Augenhöhe mit den großen Köpfen seiner Zeit, mit Becher, Bloch, Brecht und vor allem Lukács. Harich hatte Kontakte in die höchsten Kreise – und überschätzte seine politischen Möglichkeiten. Das musste er schmerzlich Ende 1956 erfahren, als er zum Rädelsführer einer oppositionellen »Gruppe Harich« erklärt und verhaftet wurde. Anfang 1957 folgte nach einem Schauprozess das Urteil: zehn Jahre Zuchthaus. Viel tiefer konnte der kommunistische Dandy nicht fallen.

Jetzt kam der Schatten: Im Zuchthaus ruinierte man seine Gesundheit und Psyche, er durfte bis kurz vor Haftende weder forschen noch lesen oder schreiben, ein Herzinfarkt wurde nicht behandelt, es entwickelte sich eine Paranoia. Und dennoch blieb er Kommunist und entschied sich nach seiner Entlassung für die DDR. Hier war sein Ruf mittlerweile angekratzt, da er im Prozess und während der Haft gegen ehemalige Mitstreiter ausgesagt hatte, teils denunziatorisch. Diese bezichtigten ihn fortan des Verrats, ohne Verständnis für seine Version der Geschichte aufzubringen, wonach ihm die Stasi andernfalls mit dem Tode gedroht habe. Seine Argumentation findet sich in einem bis dato ebenfalls unveröffentlichten Manuskript von 1992. Es erschien wiederum im 15. Band der Nachlassreihe. Dieser enthält einzelne »Schriften zur Politik«, zum Beispiel das »Memorandum« und den Entwurf der »Plattform« von 1956.

Nach der Haftentlassung durfte sich Harich in der DDR mit Forschungen zu Jean Paul und Ludwig Feuerbach beschäftigen. Eine Rückkehr an die Universität wurde ihm verwehrt. Das hinderte ihn nicht daran, sich zu aktuellen Fragen des Marxismus zu äußern, sei es mit einer Kritik am Neoanarchismus der westlichen 68er oder mit der Forderung nach einem Ökokommunismus ohne Wachstum von 1975. Im 15. Band finden sich auch Texte zu diesen Themenfeldern. Er enthält zudem Briefe und Artikel aus der Zeit zwischen Mauerfall und Harichs Tod im März 1995.

Für vieles davon benötigt der Leser Hintergrundwissen zum damaligen Weltgeschehen und zu linken Debatten jener Jahre. So schreibt am 16. Juli 1994 der enttäuschte linke Patriot Harich einen Leserbrief an den antideutschen »Junge Welt«-Redakteur Jürgen Elsässer, in dem er sich über dessen pauschalen Hass auf alle Deutschen beschwert.

Harich machte sich 1989/90 auch als einer der ersten DDR-Intellektuellen für eine Wiedervereinigung stark. Ihm schwebte ein neutraler, entwaffneter Staat vor. Der Beitritt am 3. Oktober 1990 enttäuschte ihn bitter. Die staatlich finanzierte DDR-Aufarbeitung empfand er als Siegergeschichtsschreibung, der er eine »Alternative Enquete-Kommission« entgegensetzte. Das juristische Vorgehen gegen ehemalige SED-, NVA- oder MfS-Angehörige lehnte er ab.

Nach Harichs Tod entbrannte ein Streit um sein Erbe. Einige seiner Schüler beanspruchten den Nachlass für sich. Seine Witwe Anne verhinderte dies jedoch. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion verbrachte sie den kompletten Inhalt von Harichs Arbeitszimmer ins Sozialarchiv nach Amsterdam. Dort ruhten die Unterlagen 15 Jahre lang, bis der Politologe Andreas Heyer mit Erlaubnis der Witwe das Archiv aufsuchte, Ordnung in die Papiere brachte und diese bald herausgab.

Harichs 100. Geburtstag fällt zusammen mit dem 10. Jahrestag des ersten erschienenen Bandes der »Schriften aus dem Nachlass«. Begonnen wurde mit Texten über Hegel; es folgten unter anderem Bände zu Kant, Herder, Jean Paul, Nicolai Hartmann, Lukács, zu Harichs vehementer Nietzsche-Kritk, zur ökologischen Frage, zur Anarchie oder zur Kultur. 20 Bücher (darunter einige Teilbände) sind erschienen, jeweils mit umfangreicher Einleitung. Etwa 70 Prozent des Nachlasses liegen somit gedruckt und für jedermann nachlesbar vor, wie Herausgeber Andreas Heyer jüngst bei einer Veranstaltung der Hellen Panke und der Rosa-Luxemburg-Stiftung sagte. Und er gibt zum Abschluss der Reihe Harichs späten Wunsch mit auf den Weg: »Man soll nicht über mich schreiben, man soll mich lesen, dann wird man sehen, was von einem übrig bleibt.«

Wolfgang Harich: Schriften zur Politik.
Bd. 15 der Schriften aus dem Nachlass.
Hg. v. Andreas Heyer. 743 S., geb., 89 €.
Wolfgang Harich: Neuruppiner Jugendjahre. Bd. 16 der Schriften aus dem Nachlass.
Hg. v. Andreas Heyer. 689 S., geb., 79 €.

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