Digitale Zwangsbeglückung

Christoph Ruf ärgert sich darüber, dass immer mehr Vorgänge alternativlos ins Digitale verlegt werden. Egal, ob die Menschen das wollen oder nicht

In den vergangenen Tagen war mal wieder viel Geraune. Wenn man die Finanzprobleme des Landes wirklich lösen wolle, so FDP und Arbeitgeberlager, müsse man an die Rente heran. Ich hielte das aus mehreren Gründen für ungerecht. Zumindest, wenn pauschal, also auch bei den niedrigen Renten gekürzt würde – und etwas anderes als Politik per Rasenmäher sollte man der Ampel nicht zutrauen. Ganz grundsätzlich finde ich jedoch, man sollte die Rentner in Ruhe lassen. Man hat in den vergangenen Jahren sowieso schon ungeheuer viel dafür getan hat, ihre Lebensqualität zu beeinträchtigen. Und das vor allem durch eine Verehrung des Digitalen, die zunehmend religiöse Züge annimmt.

Corona-Impfung? Besonders älteren Menschen anempfohlen, den Termin gibt es aber nur online. Sie brauchen einen Termin beim Einwohnermeldeamt? Müssen Geld überweisen? Mensch, Frau Müller, das geht doch heute alles im Internet. Haben Sie denn keine Urenkel, die Ihnen das erklären können?

Nun hat auch die Bahn, die bereits mehrfach von Datenschützern kritisiert wurde, die Zeichen der Zeit erkannt und will die physische Bahncard abschaffen. Immanent ist das logisch, denn eine von oben verordnete Firmenkultur, die Kundenwünsche und -bedürfnisse ignoriert, hat bei der Bahn Tradition. Schon beim Deutschlandticket wies Autominister Volker Wissing sie an, es nur digital auszugeben. Herrn Wissing geht es, wie er selbst sagt, um die Kundendaten. Und um Personalabbau, weshalb man derzeit gebeten wird, man möge sich doch auf Zugfahrten selbst digital einchecken (»Comfort Check in«), damit man bei der Fahrscheinkontrolle nicht mehr angesprochen werden müsse. Das ist so logisch, wie wenn man schlafenden Menschen ein Schlafmittel verabreicht, damit sie besser schlafen können.

Christoph Ruf

Christoph Ruf ist freier Autor und beobachtet hier politische und sportliche Begebenheiten.

Das zwangsdigitalisierte Deutschlandticket hatte jedenfalls zur Folge, dass Zehntausende ältere Menschen mit der Bitte aus den Reisezentren weggeschickt wurden, ihre netzaffinen Kinder und Enkel in die Spur zu schicken. Seit der Corona-Impfung sind die Jüngeren es ja gewohnt, dass sie aktiv werden müssen, wenn die Altvorderen etwas brauchen, das nur noch digital zu bekommen ist. Und das sie sich vor dem Digitalwahn problemlos selbst hatten besorgen können: vom Zugticket bis zum Behördentermin. 5,1 Millionen Bahncards sind derzeit im Umlauf. Brennend würde mich interessieren, wie viele davon im Besitz älterer Menschen ohne Smartphone sind. Im öffentlichen Bewusstsein ist das alles nicht wirklich. Dabei gibt es für die Diskriminierung älterer Menschen sogar ein englisches Wort mit -ism: Ageism. Das müsste die Tragweite des Problems doch verdeutlichen.

Ganz nebenbei löst der Kapitalismus bei der Zwangsdigitalisierung mal wieder seine süßesten Versprechen nicht ein. Die Theorie ist »Konkurrenz belebt das Geschäft« und »Angebot und Nachfrage regulieren den Preis«. Die Praxis ist, dass die Menschen durch Abschaffung der Alternativen ins Digitale gedrängt werden sollen. Einigermaßen erstaunlich ist es dabei, wie gleichmütig die Politik hinnimmt, dass dadurch Menschen, die das gerne vermeiden würden, mit jedem Kaufvorgang ihre Daten zu hinterlassen und Millionen Älterer gleichermaßen vom öffentlichen Leben ausgeschlossen werden. Die Gerichte wird es hoffentlich dann interessieren, wenn sie angerufen werden.

Wenn man liest, was der stets mit dem eigenen Kopf denkende Heribert Prantl in der »Süddeutschen Zeitung« über die »Diskriminierung der Handylosen, die sich ein Smartphone nicht leisten können oder wollen«, schreibt, dürfte eine solche Klage sogar Aussicht auf Erfolg haben. Prantl fordert, den Grundartikel 3 um das Recht auf ein analoges Leben zu erweitern. Sein Vorschlag: »Die Grund- und Daseinsvorsorge für einen Menschen darf nicht davon abhängig gemacht werden, dass er digitale Angebote nutzt.«

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