Umfrage in Berlin: 19 Prozent für »starken Führer«

»Berlin-Monitor« zeigt für 2023 Zunahme rechter und menschenfeindlicher Haltungen in allen Bereichen

  • Nora Noll
  • Lesedauer: 5 Min.

Berlin, eine Insel der Demokratie und Vielfalt? Spätestens mit der Veröffentlichung des jüngsten »Berlin-Monitors« zerbricht diese Vorstellung an der Realität. Die vom Senat in Auftrag gegebene Studie untersucht seit 2019 alle zwei Jahre die politischen Haltungen in der Hauptstadt. Die Ergebnisse der Umfrage mit 2048 Teilnehmer*innen zeigen deutlich: In allen rechten und menschenfeindlichen Bereichen steigen die Zustimmungswerte. Und während Berlin 2019 noch weit hinter den bundesweiten Zahlen lag, ist die Hauptstadt mittlerweile mit wenigen Prozentpunkten Differenz dem gesamtdeutschen Trend dicht auf den Fersen.

Über 2000 Berliner*innen hat das Team des Soziologen Gert Pickel von der Universität Leipzig von Mai bis Juli 2023 stichprobenartig befragt – telefonisch und digital, um eine Altersspannbreite von 18 bis 93 Jahre abzudecken. Dabei legte das Forschungsteam fünf Schwerpunkte fest: Haltungen zu gegenwärtigen Krisen, Zuwachs rechtsautoritärer Einstellungen, Antisemitismus, antimuslimischer Rassismus und Ablehnung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, insbesondere Trans- und Homosexuellenfeindlichkeit sowie Antifeminismus. »In allen Bereichen sehen wir einen deutlichen Zuwachs, der uns zu denken geben muss«, betont Pickel in seiner Präsentation am Montagvormittag.

Über 20 Prozent der befragten Berliner*innen stimmten der Aussage mehr oder weniger zu, dass der Klimawandel nichts mit dem Verhalten von Menschen zu tun habe. Mit Blick auf den Ukraine-Krieg behaupteten fast 40 Prozent, dass der Krieg von den USA gesteuert werde. Pickel erkennt in beiden Haltungen einen Zusammenhang mit autoritären beziehungsweise antidemokratischen Haltungen. Wer den menschengemachten Klimawandel leugnete oder den imperialen Westen einseitig für den Krieg verantwortlich zeichnete, befürworte mit höherer Wahrscheinlichkeit auch Diktaturen, Einparteiensysteme oder »starke Führer«.

Rechtsautoritarismus findet generell einen zunehmenden Anklang: Während der Aussage »Wir sollten einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert« 2019 noch zehn Prozent zustimmten, tun das mittlerweile 19 Prozent der Befragten. Die Unterstützung eines Einparteiensystems ist in demselben Zeitraum von 19 auf 31 Prozent gestiegen, eine Diktatur als »unter bestimmten Umständen bessere Staatsform« fordern mittlerweile nicht mehr vier sondern acht Prozent der Befragten.

Ebenso steigt in Berlin die Zustimmung zu antisemitischen Aussagen. So unterschrieben 2019 noch drei Prozent das antisemitische Vorurteil »Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß« – 2023 sind es 15 Prozent. Laut Pickel hängen sowohl Antisemitismus als auch Autoritarismus mit der Weltlage zusammen: »Das scheint etwas zu sein, was in Krisenzeiten eine gewisse Reaktivierung erfährt.« Dass antisemitische Vorurteile und Einstellungen nach dem 7. Oktober und dem anschließenden Gaza-Krieg noch zunehmen könnten, hält Pickel angesichts des allgemeinen Aufwärtstrends für wahrscheinlich – besonders was sekundären, israelbezogenen Antisemitismus betreffe. Darunter fällt etwa die Aussage, Jüd*innen seien für die meisten Kriege und Konflikte in der Welt verantwortlich, mit 13 Prozent Zustimmung (2019: zwei Prozent). »Aber es ist vor allem interessant, dass wir schon vorher eine Problemlage hatten, die antisemitische Ressentiments gesellschaftsfähig gemacht hat.«

Gleichzeitig nehmen antimuslimische Ressentiments zu. Der rassistischen Aussage »Die Anzahl der Muslime in Deutschland ist zu hoch« stimmten 42 Prozent der Befragten zu, im Vergleich zu 29 Prozent im Jahr 2019. Über die Hälfte teilten zudem antimuslimische Vorurteile, etwa dass der Islam »in allen seinen Ausprägungen frauenfeindlich« sei. Den antimuslimischen Rassismus hält Pickel für eine sogenannte Brückenideologie, »die tief in die Geselllschaft hineinreicht und Menschen die Möglichkeit gibt, sich nach rechts zu bewegen«. Das lässt sich ebenfalls an den Zahlen ableiten, die eine Überschneidung von Muslimfeindlichkeit und Autoritarismus darstellen.

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Antifeminismus und LGBTIQ-Feindlichkeit fungieren laut Studie ebenfalls als Brückenideologie – und haben in Berlin zugenommen. Innerhalb von zwei Jahren hat sich die Zustimmung zu der Aussage »Frauen sollten sich wieder mehr auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter besinnen« auf rund 22 Prozent verdoppelt. Noch mehr Menschen glauben, dass Frauen bei Schilderungen von sexueller Gewalt häufig übertrieben, »um Vorteile aus dieser Situation zu schlagen«. Zum Thema sexueller und geschlechtlicher Vielfalt befragt, forderten 41 Prozent, es sollte »ausschließlich Männer und Frauen geben«, und 64 Prozent, »Homosexuelle sollten ihre sexuelle Orientierung in der Öffentlichkeit zurückhalten«. Fast die Hälfte der befragten Berliner*innen hielten Queerness für »nur so eine neue Mode«.

Was die unterschiedlichen gruppenfeindlichen Einstellungen eint, ist eine mögliche Strategie dagegen: Wer persönlichen Kontakt zu Menschen aus den betreffenden Gruppen habe, baue nachweislich Vorurteile ab, so Pickel. Das zeige sich inbesondere bei antimuslimischem Rassismus: »Wenn hier nur Kontakt über Medien erfahren wird, nehmen die muslimfeindlichen Einstellungen eher zu.« In einer Stadt wie Berlin, wo persönlicher Kontakt zwischen Gruppen fast schon automatisch entstehe, sei die Entwicklung hin zu mehr Feindlichkeit und Autoritarismus deshalb besonders besorgniserregend. Als weiteren Präventionsansatz schlägt Pickel eine einende Identifikation vor, die Gruppengrenzen transzendiere, »zum Beispiel eine Berliner Identität«. Außerdem brauche es Demokratiebildung und eine starke Aufklärung gegen Verschwörungserzählungen.

Ein Aspekt korreliert laut der Umfrage insbesondere mit rassistischen Einstellungen: das Gefühl, politisch und sozial benachteiligt zu sein. Den Lösungsvorschlag, der Angst vor Armut und Abstieg mit sozialer Politik entgegenzutreten, bringt Pickel zwar nicht vor. Aus der Umfrage lässt sich diese Forderung jedoch ableiten.

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