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Gedenken mit oder ohne AfD: Geht es um Recht oder Respekt?
AfD-Politiker übergingen am Gedenkstein der Synagoge Alt-Hohenschönhausen die Wünsche NS-Verfolgter und zeigten Hinterbliebenen an
Die vergangene Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Reichspogromnacht am Gedenkstein für die Synagoge Hohenschönhausen hätte würdevoller ablaufen sollen. Ganz sicher nicht hätte sie als Bühne für parteipolitische Inszenierungen und Provokationen missbraucht werden dürfen. Viele der Beteiligten hätten sich anders verhalten, auch die Polizei anders entscheiden können. Für die Mitglieder der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA), für die Hinterbliebenen, vor allem für die damaligen Opfer selbst, die mit dem Gedenkstein geehrt werden sollen: die jüdische Gemeinde der ehemaligen Synagoge im Berliner Ortsteil Alt-Hohenschönhausen.
Stattdessen wurden sie »entehrt und beleidigt«. Das sind die Worte, die Gerhard Langguth in einem Gespräch mit dem »nd« wählt, um zu beschreiben, was am 9. November 2024 rund um den Gedenkstein in der Konrad-Wolf-Straße passiert ist. Er selbst ist Mitglied der VVN-BdA und war langjähriger Anmelder der Gedenkveranstaltung in Hohenschönhausen. Dieses Mal aber hatte eine Lichtenberger Bezirksstadträtin zur Veranstaltung geladen, im Namen des Lichtenberger Bürgermeisters. Das wird in dieser Geschichte später noch einmal wichtig, wenn es um Rechte, Respekt und Durchsetzung von Recht geht.
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Wünsche Hinterbliebener vs. Anspruch von Politikern
Denn dies ist nicht etwa die Geschichte einer physischen Eskalation. Schließlich kam an diesem Tag niemand zu Schaden. Zumindest nicht körperlich. Diese Geschichte ist vielmehr eine, die ausführlich darüber erzählt, wie wir in Deutschland heute, 80 Jahre nach der Befreiung der Vernichtungslager, mit dem Andenken an die NS-Opfer, vor allem aber auch mit den Wünschen und Erwartungen von Hinterbliebenen und Angehörigen umgehen. Welchen Stellenwert haben sie und ihre Empfindungen gegenüber rein formalen und polizeilichen Entscheidungsprozessen, wie etwa dem stumpfen Durchsetzen des Rechts von Parlamentariern? Am Ende des Tages wird Langguth jedenfalls – selbst direkter Nachfahre von NS-Verfolgten – eine Anzeige wegen Nötigung kassiert haben, erstattet von Dietmar Klaus Drewes, Mitglied der Lichtenberger Bezirksverordnetenversammlung (BVV), und der AfD-Fraktion. Zuvor wird er die Polizei verständigt und durchgesetzt haben, dass er als Vertreter der AfD mit seinem Parteikollegen Sebastian Faetke einen Kranz am Gedenkstein niederlegen darf – entgegen dem erklärten Willen der Mitglieder der VVN-BdA.
Doch von vorn: Am Ort der Gedenkveranstaltung versammelten sich am späten Vormittag je nach Angaben zwischen 50 und 100 Menschen. Ein Vertreter der VVN-BdA hielt eine Ansprache. Auch die Vereinigung hatte eine Einladung zur Veranstaltung ausgesprochen – wenn auch nicht als Veranstalter. Unter den Zuhörenden waren auch Vertreter*innen von CDU, SPD, Linke, Grünen und dem BSW. Sie hatten Kränze dabei. So auch Drewes und Faetke. Auf der Schleife war zu lesen: »In stillem Gedenken – AfD Lichtenberg«. Für die VVN-BdA eine unerträgliche Provokation. Der Kranz einer Partei, die von mehreren deutschen Verfassungsschutzbehörden beobachtet und als rechtsextrem eingestuft wird, sollte dort nicht liegen, so erinnert sich Langguth an die vorherrschende Stimmung unter den Anwesenden. Ja, die bloße Anwesenheit der beiden Bezirksverordneten wurde als Hohn gegenüber den Verfolgten und Ermordeten empfunden.
Fokus »zugewanderter Antisemitismus«
Gerade die AfD-Vertreter in der BVV Lichtenberg fielen in der Vergangenheit mit der Relativierung von Antisemitismus und positiver Bezugnahme auf den Nationalsozialismus auf: So dokumentierte das Berliner Register 2020 etwa einen Social-Media-Post eines Lichtenberger AfD-Verordneten, in dem er sich selbst als Nazi bezeichnete, und zwar als »Nicht An Zuwanderung Interessiert. NAZI!«. Im Mai 2021 wollten mehrere AfD-Verordnete während einer BVV-Debatte um eine Resolution gegen Antisemitismus den inhaltlichen Fokus auf »zugewanderten Antisemitismus« legen, was den bereits innerhalb der Gesellschaft existierenden Antisemitismus unsichtbar macht – vor allem den rechten, dem europäische Jüdinnen und Juden in Deutschland millionenfach zum Opfer fielen.
Um diese Menschen schließlich ging es an diesem Novembertag in Alt-Hohenschönhausen. Sie sollten nun um die Mittagszeit, nach den Ansprachen während der Gedenkveranstaltung geehrt werden, indem Teilnehmende, BVV-Verordnete und Verbände Kränze am Gedenkstein niederlegten. »Das wollten auch die beiden AfD-Leute machen, was von den Antifaschisten als Beleidigung der millionenfachen Opfer des Faschismus angesehen wurde und verhindert werden sollte«, so Langguth zum »nd«. Also stellten sich nach seinen Angaben zunächst etwa fünf bis sechs »junge Leute« in den Weg und verhinderten, dass Drewes und Faetke zum Gedenkstein vortreten konnten. »Um eine weitere Verschärfung zu verhindern, begab ich mich zu der Gruppe und forderte die AfD-Leute auf, die Gedenkstätte zu verlassen«, so Langguth. Dem wollten die AfD-Verordneten nicht nachgeben und diskutierten nun mit Langguth, wer von wem eingeladen wurde, wer das Hausrecht oder das Recht auf Teilnahme und Kranzniederlegung während dieser Veranstaltung habe.
Recht auf Teilnahme
Tatsächlich hatte die Grünen-BVV-Verordnete und Bezirksstadträtin Filiz Keküllüoğlu eine Einladung an alle Mitglieder der BVV ausgesprochen. Der entsprechende Text lud niemanden explizit ein oder aus. Somit hatten auch die beiden Abgeordneten der AfD das Recht, an der Veranstaltung teilzunehmen. Die VNN-BdA auf der anderen Seite hatte in der Vergangenheit bereits mehrfach deutlich gemacht, dass sie ein Gedenken mit Vertreter*innen der AfD nicht wünscht – zuletzt in einem offenen Brief an alle BVV in Berlin.
Zwischenzeitlich hatten sich nach Angaben Gerhard Langguths etwa 50 Personen um den Gedenkstein versammelt, sodass ein Herantreten der AfD-Politiker nicht mehr möglich war. Daraufhin soll Dietmar Drewes ungehindert die Polizei gerufen haben, die er kurze Zeit später selbst in Empfang genommen habe. Den Austausch mit Langguth und den anderen habe er als bedrängend empfunden, erklärt Drewes in einem Beitrag auf der Internetseite der Lichtenberger AfD-Fraktion.
Beim Eintreffen der Polizei entfernten sich die sechs Umstehenden, nur noch Langguth war aus der Gruppe derjenigen zugegen, die Drewes und Faetke zuvor am Niederlegen gehindert hatten. Die Angaben Langguths und Drewes’ decken sich in dieser Hinsicht. Daraufhin bestand Drewes auf einer Anzeige gegen Langguth wegen Nötigung. Dass Langguth selbst Hinterbliebener von NS-Verfolgten ist, wusste Drewes zu diesem Zeitpunkt. Auch das geht aus seinen eigenen Schilderungen hervor. Der Vater Ernst Langguth war als Kommunist verfolgt worden, wurde unter anderem von der SA eingesperrt und gefoltert. Später wurde er aufgrund seiner Widerstandstätigkeiten wegen Hochverrats vor dem berüchtigten Volksgerichtshof in Abwesenheit zum Tode verurteilt – er konnte zuvor nach Prag und später nach Großbritannien fliehen.
Unbeantwortete Fragen
Nachdem die Veranstaltung von der Versammlungsleiterin für beendet erklärt worden war, meldete eine der mittlerweile noch neun Personen, die sich um den Gedenkstein positioniert hatten, eine Spontanversammlung bis 22 Uhr bei der Polizei an. Das Ziel: Das Hausrecht über den Gedenkort erhalten, um die AfD weiter vom Niederlegen abzuhalten. Die offenbar überforderten anwesenden Beamt*innen forderten darauf einen höheren Dienstgrad an, der die Spontanversammlung gegen 12.41 Uhr genehmigte, ihr jedoch einen neuen Versammlungsort neben der Gedenkstätte zuwies. »Damit konnte dann die AfD, unter Schutz der Berliner Polizei, ihren Kranz niederlegen und so die Opfer des Faschismus diskreditieren«, sagt Langguth. Eine Anfrage, nach welchem Ermessen die Polizei den Zugang durchsetzte und gegen den Willen der VVN-BdA-Teilnehmenden den Versammlungsort verlegte, ließ die zuständige Direktion unbeantwortet.
So bleiben die eingangs gestellten Fragen weiter unbeantwortet: Welche Rücksicht nehmen wir beim Gedenken auf Opfer und Hinterbliebene, und in welches Verhältnis setzen wir sie zu rein formalen Entscheidungen, die vielleicht polizeilich oder korrekt, jedoch mindestens unsensibel sind? Aber auch: Was motivierte zwei AfD-Verordnete tatsächlich, ihr Recht als Eingeladene polizeilich durchsetzen zu lassen? Ist es wirklich ehrliches Gedenken, wie im Beitrag Drewes behauptet, derart gegen die Wünsche einer Verfolgtenorganisation vorzugehen? Zweifel mögen auch nach folgender Aussage angebracht sein, die Gerhard Langguth zwischen Drewes und Faetke aufgeschnappt haben will: »Und wenn der Kranz nach zehn Minuten wieder weggeschmissen wird, wir müssen ihn ablegen.« Eine Nachfrage des »nd« dazu ließen beide unbeantwortet.
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