- Kultur
- Italienische Oper mit englischem Stoff
Nach der Leidenschaft kommen die Sorgen um die Macht
An der Deutschen Oper Berlin inszeniert David Alden die »Anna Bolena« von Gaetano Donizetti
Geschieden, geköpft, gestorben, geschieden, geköpft, gelebt!» – britische Schüler dürfen sich dieses schlaue Merksätzchen vorsagen, wenn es im Geschichtsunterricht um Heinrich VIII. und sein Liebesleben geht. Sechs Ehefrauen verschlang der Monarch, von seiner zweiten, folglich eine der beiden geköpften, handelt Gaetano Donizettis 30. Oper von insgesamt 64 (nach konservativer Zählung). Die historische Anne Boleyn wird am 19. Mai 1536 vom besten Scharfrichter Englands in Kopf und Rumpf gespalten. In der Inszenierung von «Anna Bolena» am 15. Dezember 2023 in der Deutschen Oper Berlin erspart Regisseur David Alden dem Publikum dahingehend jegliche Form der makaberen Pantomime: Das Schwert fällt mit dem Vorhang.
Überhaupt überlässt die Spielleitung das erotische Todesschmachten dem damit überaus komfortabel ausgestatteten Stoff. Drei Stunden lang, in zwei Akten, entfaltet sich ein intriganter Komplex des Begehrens der Stände und Geschlechter. Anna Bolena (Federica Lombardi) giert nach Macht, sie spielt erfolgreich mit ihren Waffen, setzt den geilen Enrico (Ricardo Fassi) solange unter Hochdruck, bis ihm der Kessel platzt. Eine Sexplosion, die nicht nur seine Ehe zerreißt, sondern auch die katholische Kirche in England. Weil Scheidungen komfortabel sind und man als Stellvertreter Gottes auf Erden auch mal ein paar Monate lang, im Gegensatz zum zur Züchtigkeit gepeitschten Volk, ungestraft der Bigamie frönen kann, entsteht die Anglikanische Kirche.
Doch auch die siegreiche Anna mit der Krone auf dem Schädel muss lernen, dass der tyrannische Aspekt der Monarchie nicht allein in der Schaffung leidenschaftlicher Tatsachen besteht. Der König mit Privatpapstautoritäten hält sich einen obersten Gerichtshof zur Verhaltenstherapie: gute, unverbindliche Ratschläge für den Egomanen. Als der Bolena das Gebären einfach nicht gelingen will, ein männlicher Thronfolger ausbleibt (von der Übergröße der einzigen Tochter, Elizabeth I. ist ja noch nichts zu ahnen), fällt sie aus pragmatischen Gründen in Ungnade ihres Gatten. Affären werden ihr angedichtet, für Donizettis Dichter Felice Romani sind diese Liebeleien, Belcanto vollromantisch, der einzig wichtige Aspekt am Historiendrama: Gut drei Viertel des zweiten Aktes bestehen aus den Seufzern der Todgeweihten.
Dirigent Enrique Mazzola besteht trotzdem auf ungekürzte Werktreue, was gegen Ende doch zum Kraftakt wird. Weil die männlichen Figuren sowohl im Kontext der Inszenierung als auch stimmlich in der Deutschen Oper an diesem Abend klein wirken, addiert sich deren Selbstmitleid als Geseier zum großen, finalen Wahnsinn der Monarchin. Mezzosopranistin Karis Tucker als Smeton (Page der Königin) agiert hysterisch deplatziert. Percy, die alte Liebe von Anna Bolena, gesungen von René Barbera, scheint nur physisch präsent zu sein. Chance Jonas-O’Toole fährt als Offizier Sir Hervey mit dem langen Gesetzesarm allen in den Darm. Ausstatter Gideon Davey steckt das Ensemble in diffus historisierende Kostüme mit sanften SM-Elementen, was die Glaubwürdigkeit der Männer in Berlin-Charlottenburg, vom König bis zum Pagen, weiter untergräbt.
«Anna Bolena» ist 1830 der endgültige Durchbruch des Arbeitstiers Donizetti. Der aus ärmlichsten Verhältnissen in Bergamo stammende Sohn eines Pfandhauspförtners und einer Näherin, hatte das seltene Glück, bei dem bayerischen Opernkomponisten Johann Simon Mayr in einer Musikschule für Bedürftige lernen zu dürfen. Erinnerungen an Armut und Not trieben Donizetti zu bis zu fünf Opern pro Jahr – als Komponist stand man in der Hackordnung der italienischen Musikwelt im 19. Jahrhundert nicht besonders weit oben, Honorare waren vergleichsweise karg. Trotz unglaublichen Outputs darf die Qualität dieser Oper hervorgehoben werden, die sich mit Vincenzo Bellinis zeitgleich als Auftragsarbeit für das Mailänder Teatro Carcano entstandener «La Sonnambula» locker messen darf.
Zurückhaltung im Bühnenbild – das heißt im europäischen Kontext der zeitgenössischen Operndekoration, dass vor sich drehenden Fliesenwänden ein großbürgerliches Mobiliar steht – tat am vergangenen Freitag ausnahmsweise gut. Null Ideen in der Inszenierung entblößten den Facettenreichtum des adligen Wandelns auf Erden: Unter dem König leiden immer alle. Anna Bolena stirbt zwar im deliriösen Selbstmitleid, elendig träumt sie vom Ehetag, doch erkennt sie in einem letzten Aufbäumen das Unrecht an ihrer Person: «Manca, ahi! manca a compire il delitto, D’Anna il sangue, e versato sarà» («Es fehlt, ach, es fehlt nur noch das Blut von Anna, um das Verbrechen zu vollenden, und es wird vergossen werden»).
Der echten Anne Boleyn war so viel Würde nicht vergönnt. Sie dankte ihrem Herrscher mit steifer Oberlippe unter dem Schwert. Zehn Tage später heiratete Heinrich die Katholikin Jane Seymour.
Nächste Vorstellungen: 22.12, 26.12., 11.3., 16.3., 19.3.
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