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DDR-Grafik: Auf Winterreise
Die Welt ist verändert, man muss sie interpretieren: Zum Tod des Grafikers Ingo Arnold
Vor den Toren Berlins traf sich einst in Müggelheim oft eine kleine Künstler-Kolonie. Kein Programm verband sie, doch nachbarliche Freundschaft und ein unermüdlicher Spottgeist. In den 70er und 80er Jahren trafen wir uns oft beim Komponisten Reiner Bredemeyer oder auf der anderen Straßenseite beim Grafiker Ingo Arnold: die Komponisten Friedrich Goldmann, Georg Katzer, Siegfried Matthus, Friedrich Schenker, der Flötist Werner Tast und der Oboer Burkhard Glaetzner, die Musikwissenschaftler Frank Schneider und Mathias Hansen, auch manchmal die Schriftsteller Volker Braun, Heiner Müller, Karl Mickel, Friedrich Dieckmann und andere. Reiner zeigte seine Noten, Ingo seine Grafiken. Nicht alles war vorführbar. Beispielsweise die »Zeitungssinfonie« Bredemeyers aus »ND«-Zitaten, die sprach- und tonlos war, denn die Ausführungsvorschrift lautete: »Einen Zentimeter über den Saiten zu spielen«.
In Ingo Arnolds Wohnung auf der anderen Straßenseite hingen die offiziellen Regierungsporträts, wie in einer Schul- oder Amtsstube: Sindermann, Honecker, Stoph. Sie waren mit der Schere in senkrechte Segmente zerteilt, Zebrastreifen machten aus ihnen monumentale karnevalistische Grotesken, die mit zerschnittenem Lächeln begrüßten. Sie hingen nicht in der Wohnstube, sondern in den Kellerräumen. Die Bilder waren geheimnisvoll verrätselt, menetekelhaft verhießen sie den Absturz, der auch prompt erfolgte.
In Ingo Arnolds Arbeiten tickt ein Metronom, sie sind rhythmisch gegliedert und manchmal von Senkrechten durchschnitten wie von Taktstrichen im Notenbild. Wir sehen eine fragmentierte Welt. Sie führt in eine »Abendscheinwelt«, wo »Posaunenschallundrauch« ertönt und der tägliche »Kaltfrontbericht« die neue »Eisweltordnung« verkündet. Diese Wortungeheuer sind die Titel seiner »Vier Ernsten Blätter«. »Vier Ernste Gesänge« heißt die letzte Komposition von Johannes Brahms. Doch nicht Brahms wird beschworen, sondern ein Dichter – der Romantiker Wilhelm Müller. Mit seinem Gedichtzyklus »Winterreise« hängen diese Foto-Collagen zusammen. Mit den Gedichten, nicht mit Franz Schuberts Melodien. Der Dichter Karl Mickel kommentierte sie mit seiner Variante der elften Feuerbach-These von Karl Marx: »Die Welt ist verändert worden. Es kommt jetzt darauf an, sie wieder zu interpretieren«.
In Müggelheim blühten die Linden, die Wellen der Großen Krampe plätscherten. Unsere Gespräche waren ungeordnet, von heftigem Gelächter zerrissen, eher polemisch als prinzipiell. Am Ende dieser Abende hätte jeder von uns mit Johannes Brahms sagen können: »Falls ich heute jemanden zu beleidigen vergessen habe, bitte ich um Verzeihung.« In diesem Milieu wurde auch die neue »Winterreise« geboren. Eines Tages kam Reiner Bredemeyer in die Komische Oper und brachte ein Bündel Noten: »Winterreise – 24 Lieder nach Wilhelm Müller« stand darauf. »Du bist verrückt«, sagte ich. »Gegen Schubert hast du keine Chance.« –»Ingo Arnold macht dazu auch einen Zyklus von fotografischen Collagen«, antwortete er.
1984 hat Arnold einen Zyklus von zwölf Kalenderblättern geschaffen, und eines dieser Blätter hing über dem Arbeitstisch an der Wand. Man sieht darauf einen Bücherschrank, und davor einen Friedhof mit verschneiten Grabsteinen. Bredemeyer sah also dieses Bild und rief: »Das ist meine Winterreise«. Von der wußte Ingo Arnold damals noch gar nichts, sie war gerade komponiert und noch nicht aufgeführt. Das kam erst ein Jahr später in der Komischen Oper, und die neue »Winterreise« wurde entgegen allen Voraussagen ein toller Erfolg. Arnold aber schuf 24 neue Foto-Collagen im Stile seiner Friedhofsbibliothek, für jedes der 24 Müllerschen Gedichte ein Blatt, und jedes signiert mit zwei Verszeilen.
Ingo Arnold hat diese neuen Lieder zu den alten Texten in moderne Foto-Montagen übersetzt, die keinen Napoleon und keine Hohenzollern mehr kennen. Die Foto-Collagen zeigen erfrorene Bäume, Wiesen, Wege, Brücken oder Zäune im Schnee, Gleise, die nirgendwohin führen, Schilder ins Leere, eine Krähe auf einem Bildschirm. Doch wie sie zusammengefügt sind, das ist die spitze Pointe, die ins Herz trifft.
Ingo Arnold, geboren 1931, wohnte sein Lebtag in Berlin-Köpenick – 60 Jahre in Müggelheim und seit 1987 in der Altstadt. Seinen Vater verlor er im Krieg, die Mutter starb früh. Er erlebte mit Entsetzen, wie ein abgeschossener britischer Pilot unter Beschimpfungen und Bespucken durch einen seiner Lehrer durch das Dorf getrieben wurde. Das Erlebte erzeugte bei ihm – wie auch bei seinem späteren Freund Bredemeyer – einen lebenslangen Hass auf alles Militärische. 1970 erwarb er extern bei Wolfgang Mattheuer ein Graphik-Diplom. Neun Jahre war er Dozent für Bild und Buchgestaltung. Der letzte Brief, den er mir schickte, kam vergangenen Januar: »dauer halt ein /und sieh / die wurzeln / und das moos das eisen / und den rost das wasser / und den stein das licht / und seinen stern«.
Ingo Arnolds Kosmos kennt nicht das romantische Grün und des Frühlings hoffnungsfrohes Rauschen. Als Eterna, das Klassik-Label der DDR, ihn beauftragte, für eine Beethoven-Gesamtausgabe die Cover zu gestalten, wählte er Motive von Michelangelo. Das war seine Antwort: Beethoven nicht als Klassiker, sondern als Rebell. Die 24 Blätter der »Winterreise« gehören zu den bedeutendsten grafischen Arbeiten der DDR. Ingo Arnold starb am 9. Dezember.
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