Silvester vor Berliner Gefängnissen: "Reißt die Mauern ein"

Um Gefangene an Silvester nicht alleine zu lassen, demonstrieren Hunderte vor Berliner Knästen

Vor dem Gefängnis in Moabit wollen Unterstützer*innen den Insassen zeigen, dass diese nicht alleine sind.
Vor dem Gefängnis in Moabit wollen Unterstützer*innen den Insassen zeigen, dass diese nicht alleine sind.

Wunderkerzen knistern, Raketen zischen, Korken knallen – um Mitternacht sieht es vor den Gefängnismauern der Justizvollzugsanstalt (JVA) in Moabit gar nicht so anders aus als im Rest von Berlin. Dafür sorgen knapp 300 linke Demonstrant*innen, die in der Silvesternacht ein Zeichen der Unterstützung an die Gefangenen hinter den hohen Mauern und Zäunen senden wollen. Hinter den vergitterten Fenstern brennt Licht, einige Köpfe schauen heraus, Hände winken auf beiden Seiten der Gitterstäbe. »Ihr seid nicht allein«, rufen die Demonstrant*innen.

»Es ist in vielen Städten Tradition, an Silvester durch Kundgebungen und Demonstrationen vor Knästen auf das System aufmerksam zu machen, die inhaftierten Menschen nicht zu vergessen, die Isolation zu durchbrechen und den Leuten in den Knästen zu ermöglichen, auch ein bisschen Silvester zu feiern«, sagt Rumo Winter, eine der Organisator*innen der Aktion in Moabit, die laut ihren Angaben von einem Zusammenschluss abolitionistischer Gruppen auf die Beine gestellt wurde. Abolitionist*innen wollen staatliche Gewaltinstitutionen wie Gefängnis und Polizei abschaffen.

In einem Redebeitrag wird auf die besonders schlimme Situation von trans Menschen im Knast hingewiesen. So fehle der Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung, ohne Änderung des Geschlechtseintrags hätten trans Menschen keine Möglichkeit, ihrem Geschlecht entsprechend untergebracht und behandelt zu werden. Oft würden trans Menschen, vermeintlich zur eigenen Sicherheit, in Isolationshaft eingesperrt, obwohl das eine der schlimmsten Formen von Bestrafung im Gefängnissystem sei. »Es geht uns um universelle Selbstbestimmung«, heißt es in dem Beitrag. Nicht um bessere Gesetze, denn diese seien Teil eines Systems, das den Status quo aufrecht erhalte. »Wir kämpfen nicht für nichtbinäre Knäste. Wir kämpfen für die Abschaffung von Knästen.«

Muckefuck: morgens, ungefiltert, links

nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik – aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin – ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss.

In anderen Redebeiträgen senden (ehemalige) Gefangene ihre Grüße an die Inhaftierten. Kai zum Beispiel sei zurzeit im offenen Vollzug in Neuruppin-Wulkow untergebracht, habe aber zuvor 14 Monate lang in der JVA Moabit festgesessen. »Lasst euch nicht biegen und brechen«, sagt er zu den Insassen und empfiehlt ihnen, sich mit dem Strafvollzugsgesetz zu beschäftigen, um sich gegen Schikanen und rechtswidriges Verhalten in den JVA zur Wehr zu setzen. Kai weist außerdem auf den Tod von Ferhat Mayouf hin, der am 23. Juli 2020 an einer Rauchvergiftung während eines Brands in seiner Zelle in Moabit starb. Die Justiz habe das als Suizid gewertet, dabei gebe es Zeugenberichte von anderen Insassen, die Hilfeschreie vernommen hätten.

Schon am Nachmittag versammelten sich etwa 60 Knastgegner*innen zu einer Kundgebung vor der JVA Tegel, um insbesondere die mangelnde Gesundheitsversorgung in Gefängnissen anzuprangern. Ein prominentes Beispiel dafür ist der dort inhaftierte Andreas Krebs. »Der Knastrebell Andreas Krebs hat während seiner nunmehr 24 Jahre andauernden Einsperrung in deutschen und italienischen Knästen immerzu gekämpft und rebelliert, hat Protestaktionen organisiert und dem Staat immerzu die Zähne gezeigt«, sagt Markus, einer der Organisator*innen der Kundgebung, durch das Mikrofon. 2019 sei bei Krebs Nierenkrebs diagnostiziert worden. »Der Staat verweigert ihm sowie vielen anderen Menschen hinter Gittern eine ausreichende medizinische Versorgung.«

Krebs hat selbst ein Grußwort an die Kundgebung aufgenommen, das durch den Lautsprecher abgespielt wird. »Seid laut und reißt die Mauern ein«, sagt er. Krebs erinnert außerdem an Menschen, die sich in der JVA das Leben genommen haben, und kritisiert die Schikanen im Gefängnisalltag. »Freiheit für alle Gefangenen«, rufen die Kundgebungsteilnehmenden, und: »Von Tegel bis nach Moabit – Dy-, Dy-, Dynamit!«

Auch Robin von der Berliner Roten Hilfe spricht auf der Kundgebung. Andreas Krebs sei eine wichtige Stimme aus dem Knast und habe sich nicht brechen lassen. »Knast und die Drohung davor gehören zu den stärksten Repressionen, die der Staat hat, um Widerstand zu brechen und Bewegungen zu spalten«, sagt Robin. Umso wichtiger sei es, dagegenzuhalten und diejenigen zu stützen, die sich hinter den Gittern wehrten. »Andreas Krebs führt den politischen Kampf innerhalb der Mauern trotz seines gesundheitlichen Zustands fort. Als Antirepressionsstruktur unterstützen wir das natürlich, wir wollen niemanden damit alleine lassen«, sagt Robin »nd«.

Die Organisator*innen der Kundgebung freuen sich, dass trotz des weiten Wegs nach Tegel mit Schienenersatzverkehr und des eher kalten Wetters 60 Menschen erschienen sind. »Das stimmt mich hoffnungsvoll«, sagt Markus im Anschluss »nd«. Denn die staatlichen Repressionen würden zunehmen und träfen so viele, gerade arme und rassifizierte Menschen, die »haarsträubende Schikanen« erleben müssten. »Es wird 2024 viel zu tun geben.«

Vor der JVA in Moabit löst sich die Silvesterdemonstration gegen ein Uhr nachts auf, als die Polizei die Straßenkreuzung räumt. Johanna Smith hat teilgenommen, um sich solidarisch zu zeigen mit den Menschen, »die unter furchtbaren Bedingungen einsitzen«. Sie habe selbst Erfahrung in der Arbeit mit Straffälligen im Bereich der Sexualdelikte, sagt sie »nd«. »Diese werden ja oft als Argument für die Notwendigkeit von Gefängnissen angeführt. Aber meiner Erfahrung nach führen Therapie und direkte Gespräche viel eher zu einer Reflexion und Änderung des Verhaltens als langjährige Haftstrafen, die die Menschen teilweise vorher abgesessen haben«, sagt sie.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.