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Jean-Philippe Kindler: Bloß nicht in den Schmerz hineinatmen
Jean-Philippe Kindler öffnet in seinem neuen Buch den Blick auf das deformierte Leben im Kapitalismus
Das geistige Leben ist in den Anfängen unendlich zart», ein unterschätzter Satz aus Horkheimers und Adornos «Dialektik der Aufklärung», könnte programmatisch für Jean-Philippe Kindlers neues Buch «Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf. Eine neue Kapitalismuskritik» stehen, das bei Rowohlt erschienen ist. Zwar gibt es sich an einigen Stellen polemisch, ist aber vielmehr Ausdruck eines sich versenkenden Blicks in das, was vom zerbrochenen Leben heute übriggeblieben ist.
Um es zu Beginn auszusprechen: Wer eine wirklich «neue» Kapitalismuskritik erwartet, wird dem Argumentationsgang des Buchs nicht immer etwas Innovatives abringen können. Das Buch versucht, innerhalb von sechs Kapiteln Begriffe wie Armut, Klimakrise, Glück, Linkssein und vor allem das gute Leben zu repolitisieren. Damit meint Kindler, Schlagworte, die er durch die Entpolitisierung und den Rückzug in die individuelle Selbstwirksamkeit von Subjekten bedroht sieht, wieder als das herauszuarbeiten, was sie sind: Produkte menschlicher Arbeit, die aus der politischen Zugänglichkeit herausgelöst wurden.
Das Dogma Margaret Thatchers, dass es keine Gesellschaft, sondern nur Individuen gibt, ist dabei Produkt einer Deformation des einzelnen Lebens, die im Kapitalismus vollzogen wird. Kindlers kluge Kritik findet sich in unserer Individualisierungs- und Identitätssucht, die zu einer Entpolitisierung führe und dadurch das gemeinsame Problem der Linken, Konservativen und politischen Mitte bezeichnet.
Das Credo des Buches wird schon in der Einleitung deutlich und lautet passend: «den Kapitalismus aus dem Unbewusstsein ins Bewusstsein bringen». Der Weg zu diesem Ziel wird vor allem theorielastigen Linken bekannt vorkommen. Zitiert werden unter anderem Andreas Reckwitz, Mark Fisher und Eva Illouz, um anschließend durch empirische Daten angereichert zu werden. Klassiker wie Karl Marx und Theodor Adorno sind so sehr bereits Teil des Denkens geworden, dass man sie auch ohne Fußnote bemerkt.
Das Ziel, den Kapitalismus ins Bewusstsein und damit in einen Zustand zu bringen, in dem er durch politische Interventionen veränderbar erscheint, führt häufig dazu, theoretische Herleitungen zu bemühen, die man meist schon kennt. Armut ist dabei Konsequenz eines abstrusen Leistungsdenkens und politischer Ignoranz, die ideologisch durch einen neoliberalen Staat bestätigt wird. Und die Demokratie zu repolitisieren, bedeutet, den Menschen bewusst zu machen, dass der Staat potenziell durch Streiks in systemrelevanten Bereichen erpressbar ist und man sich dessen viel radikaler bedienen könne.
An den Stellen, wo Leiderfahrung und Verzweiflung thematisch aufblitzen, beweist dieses Buch seine Stärke. Gerade dort, wo der Autor über die Omnipräsenz von Schmerzen und gesellschaftlicher Gewalt schreibt, lässt sich erfahren, worum dieser Text tatsächlich zirkuliert: Kindler spricht ausführlich drüber, dass Glück und psychische Gesundheit gegenwärtig missverstanden werden, da sie als Arbeitsaufgaben des sich optimierenden Individuums gedacht werden. Glück, die Fähigkeit seine Zeit auch zu genießen, hänge notwendig an den gesellschaftlichen Bedingungen und damit an seiner objektiven Möglichkeit. Der Rückzug in ein individuelles Glück erscheint Kindler als Problem, weil die Bewältigung von Leiden und Druck zu einem Optimierungsprozess Einzelner würden. Unabhängig von Ausbeutung oder Armut erscheine so Glück erarbeitbar, wodurch sich dessen Bedingungen verdecken. Das öffne die Tür für Ratgeberliteratur und die bei Unternehmen sehr belieben Mental-Health-Seminare, die den Glauben befördern, wenn man an der Deformation des Lebens durch den Kapitalismus leide, dann wäre man selbst in der Lage, dem durch das richtige Mindset Abhilfe zu schaffen. Dabei ist Selflove als Selbstoptimierungsideologie das Pendent zum Kult der Entpolitisierung, die als ideologischer Kitt auf die Polykrisen der politischen Ignoranz antwortet.
Die Kritik am Kult individueller Optimierbarkeit wird dadurch zu einem Teil kapitalistischer Ideologie, die in Kindlers Buch immer wieder als religiös gefärbt erscheint. Ganz im Sinne Walter Benjamins ist hier der Kapitalismus Religion, da er einerseits seine Gemachtheit verdeckt und – viel wichtiger – Sorgen, Leiden und Verzweiflung in derselben Weise begegnet, wie es die Fantasie eines jenseitigen Paradieses tut.
Gerade dort, wo Kindler darauf eingeht, dass das Versprechen von Schmerzlinderung meist zur Farce wird, erweist sich das Buch als gelungen. Es drückt implizit die verzweifelte Haltung der in den Verhältnissen leidenden, denen keiner wirklich zuhört, aus. Zart ist, dass so aufscheint, worum es aller Reflexion gehen muss: Den Schmerz und die Verzweiflung derjenigen zu vernehmen, die unters Rad geraten – letztlich alle.
Darum ist gerade das letzte Kapitel das Gelungenste. In der Bestimmung der Liebe als immer schwieriger zu findender Erfahrung, entdeckt der Autor das Potenzial einer menschlichen Praxis, die den Verhältnissen etwas entgegensetzen könnte. Es geht um das «Gefühl kollektiver Geborgenheit» als einem intersubjektivem Verhältnis von Sorge und Verantwortung, die in der Lage wären, im Blick auf die gesellschaftliche Verhärtung, Rückzug in die Innerlichkeit und Entpolitisierung, etwas entgegenzusetzen.
Bei aller Wut auf das, was ist, welche Kindler wohlgestreut durch intime Bekenntnisse seiner eigenen psychischen Erkrankung zu vertiefen schafft, blitzt dennoch die Hoffnung auf, dass sich daran etwas ändern könnte. In einer anderen Weise ließe sich wohl kaum der fließende Übergang zwischen der Liebe als epistemologischer und politischer Kraft und der Erwähnung geliebter Menschen in der Danksagung erklären. Darüber vergisst sich auch der eine oder andere Satz, der verdächtig bekannt klingt.
Jean-Philippe Kindler: Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf. Eine neue Kapitalismusanalyse. Rowohlt, 160 S., geb., 12 €.
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