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Graphic Novel »Seid befreit«: Die Melancholie des Untergangs

Wenn die Kindheit mit einem Land verschwindet: Sandra Rummlers Graphic Novel »Seid befreit« über Ostberlin nach dem Mauerfall

  • Anne Hahn
  • Lesedauer: 3 Min.
Und auf einmal merkt Mo (Mitte): Ihr altes Land wurde auch geklaut.
Und auf einmal merkt Mo (Mitte): Ihr altes Land wurde auch geklaut.

Typisch DDR: »Ich bin Mo« steht in weißen, zarten Buchstaben links oben auf der ersten schwammig dunklen Seite des neuen Comic von Sandra Rummler. Am Anfang gleitet der Blick der Betrachterin von einem winterkohlebraunen Himmel hinunter in eine leere Straßenschlucht, einzige Lichtquelle des hochformatig ganzseitigen Bildes ist die Bogenlampe rechts unten. Die Straße könnte in Dresden, Leipzig oder Halle liegen, es ist aber Berlin-Pankow, Flora-Kiez. Die vernachlässigten Häuser neigen rechts und links ihre dunklen Fenster sanft zur Straße hinunter, deren Kopfsteinpflaster unter der Laterne hell gepunktet angedeutet ist.

Getuschte Bildelemente fließen in gezeichnete, stoßen an gerahmte Einzelkörper. Das wirkt ein wenig beunruhigend. Bringt schon hier, auf der ersten Seite, gewohnte Lesarten durcheinander. Die rechte Seite erscheint als Zoom in die vorangegangene: näher, düsterer – ein schräger Blick in eine Häuserlücke, auf eine mattgraue Wand, Dächer, Schornsteine. Im Vordergrund eine Hauskante, in der Mitte der Seite die zwei Sätze: »Im Winter ’76 wurde ich geboren. Unser Haus stand direkt an der Mauer.«

Das Kind Mo führt uns im 264-seitigen Bildroman »Seid be(f)reit« in seine Welt, die bald in einer Novembernacht kollabieren wird. Auf der folgenden Doppelseite, wieder braun-schlammig-dunstig, sticht die flächig klare Figur des Mädchens heraus. Sie hebt sich ab. Gelbes Blubberhaar, das Augenpaar links- beziehungsweise rechtsseitig der Nase, der Mund ein Strich. Auf dieser Seite die Notiz: »Das dahinter wurde der Ort meiner Fantasie.« Wie ein bunter Fremdkörper treibt Mo durch die grau-braune Welt, die sich zum Mauerfall hin aufhellt. Bis die Fantasiewelt das Schlammbraun überschwemmt. Mo ist knapp 14 Jahre alt, als sie aufbricht, sich die farbige Seite der Stadt im Westen anzuschauen. Und froh, abends in den dunklen, leeren Teil der Stadt im Osten zurückkehren zu können.

Sandra Rummler wurde wie ihre Hauptfigur Mo 1976 in Ostberlin geboren. In den vergangenen Jahren entstanden mehrere hervorragende Comics, die sich mit dem Leben in der DDR beziehungsweise dem Erleben ihres Endes auseinandersetzen, von Mawil, Ulla Loge und Kitty Kahane.

Bei Rummler wird in wenigen Stichpunkten das Ende einer Kindheit im (zufälligen) Gleichklang mit dem Verschwinden eines Landes gezeichnet – auf neue, einzigartige Weise. Denn der Bruch zwischen Figuren und Hintergrund ist aufregend, die Bildfindung Rummlers atemberaubend komplex. Motti ergänzen Sprechblasen, Seiten mit Dialogen wechseln sich mit Stimmungsbildern ab: ein zartrosa Abendhimmel am Kanal, goldgelb über Plattenbauten, blau-schwarz die Kreuzung Eberswalder, moderbraun die Fabrik an der Mühlenstraße.

Die Handlung zoomt Momente des Erwachsenwerdens von Mo heran: die erste Periode, das erste Schwärmen für eine Frau, das erste Verliebtsein, Mobbing durch Westberliner Mitschüler, S-Bahn-Surfen, Hatz durch Neonazis. Das wilde Jahr der Anarchie nach dem Mauerfall findet ebenso Platz wie das Verrotten leerstehender Fabriken, Techno-Partys, Wohnungsbesetzungen, die Arbeitslosigkeit des Vaters und die erste Bleibe.

Das Berührende der Bilder von Sandra Rummler ist ihre Melancholie. »Ich habe selbst nochmal um die Heimat getrauert, die ich jetzt nicht mehr besuchen kann«, sagte die Künstlerin kürzlich in einem Interview mit dem RBB über ihren Comic und ihre Erfahrungen.

Sandra Rummler: Seid befreit. Avant-Verlag, 264 S., br., 29 €.

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