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Verzweifelt, fesselnd und aufklärend
»Blick in den Abgrund« – das israelische Tagebuch von Saul Friedländer
»Das Land steuert möglicherweise auf einen größeren Krieg zu«, befürchtete der Historiker Saul Friedländer bereits im Mai vergangenen Jahres. Und dann richtete er, wie schon öfter zuvor, seine Kritik und seinen Zorn gegen den israelischen Regierungschef Benjamin Netanjahu, der, um einer Verurteilung wegen Untreue, Betrugs und Bestechlichkeit zu entgehen, sich mit Radikalen, Rechtsextremen und Orthodoxen zusammengetan hat. Ein unseliges, ein verhängnisvolles Kartell. »Netanjahu hat die Atmosphäre so sehr vergiftet«, urteilt Friedländer, »dass allerorten Misstrauen herrscht.« So sein Urteil zur Situation in der ersten Hälfte des Jahres 2023 nach dem neuerlichen Antritt Netanjahus und seiner Mannschaft.
Der Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober, das Massaker auf jüdische Zivilisten erfolgte fünf Monate später. Davon ist in diesem hier vorzustellenden Tagebuch freilich noch keine Rede, erschien es doch kurz zuvor. Und doch sind diese Notizen Friedländers zu Geschehnissen in »seinem« Land, wie er Israel nennt, noch hoch aktuell. Seit Jahrzehnten lebt er in den USA. Er spricht zum einen von »meiner Heimat Los Angeles« und ist doch weiterhin mit ganzem Herzen in Israel, spricht von »wir« und »unser« und »unsere Gesellschaft«. Friedländer ist ein Davongekommener, er hat den Holocaust in Frankreich im Verborgenen überlebt, seine Eltern wurden von den deutschen Faschisten ermordet.
Friedländer hat den nötigen Abstand zu Israel und ist zugleich unabhängig, souverän und bestens vertraut mit Land und Leuten, Befindlichkeiten und Konflikten. So macht er in seinem Tagebuch auch keinen Bogen um Themen und Begriffe, die in der deutschen Öffentlichkeit tabuisiert sind und deshalb Debatten um Lösungsansätze behindern. Was beispielsweise ist Antisemitismus. Und was ist berechtigte oder auch unberechtigte Kritik an der israelischen Regierung?
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»Israel ist keine Antwort auf den Antisemitismus«, schreibt Friedländer und fügt nach dem Semikolon hinzu: »in einigen Fällen verstärkt es den Antisemitismus sogar noch«. Nicht jede Kritik an Israel sei antisemitisch, Antisemitismus erkenne man »meist an einem Ton (oder einem Unterton) des blanken Hasses«. Friedländer benennt auch Rassismus in der israelischen Gesellschaft. In der Gründungszeit des jüdischen Staates, an die er sich erinnern kann, habe er Rassismus »gegenüber den Einwanderern aus Nordafrika« erlebt. Heute »blanker Rassismus der schlimmsten Art« gegen Araber, so Friedländer.
Er nutzt Begriffe, die in Deutschland kürzlich für helle Empörung sorgten. »Israel ist auf dem Weg in eine autoritäre Apartheid-Theokratie, so etwas wie eine Mischung aus dem früheren Südafrika und dem heutigen Iran. Zwei Gruppen wetteifern darum, dieses Ziel so schnell wie möglich zu erreichen: die Siedler und die Ultra-Orthodoxen. Eine unheilige Allianz, wie sie im Buche steht.«
Der Wissenschaftler nimmt kein Blatt vor den Mund. Wieder und wieder kritisiert er Netanjahus Bündnis mit vier religiösen Parteien, mit Ultraorthodoxen, Radikalen und Extremisten. Bezalel Smotrich aus der Partei Religiöser Zionismus beispielsweise, heute der Finanzminister und bekennender Rassist, erklärt unverblümt, es gebe kein palästinensisches Volk, die Palästinenser seien »eine nicht einmal hundert Jahre alte Erfindung«. Und Itamar Ben Gwir von der Partei Jüdische Stärke, heute Minister für nationale Sicherheit, sei »die anstößigste und ekelhafteste Figur in dieser ganzen Galerie von Verrückten«, urteilt Friedländer. Ben-Gvir spricht sich für die Todesstrafe aus, möchte die Demokratie in Israel zugunsten einer jüdischen Theokratie beseitigen und gilt laut Friedländer als »erklärter Araberhasser«. Der Holocaust-Forscher entlarvt die finanziellen Unterstützer der Extremisten in Israel und merkt sarkstisch an: »Kohelet (…), die ultrarechte libertäre Organisation (…) wird offenbar von zwei amerikanisch-jüdischen Milliardären, Jeffrey Jass und Arthur Dantchik, finanziert, die unter anderem die Randalierer des Sturms aufs Kapitol am 6. Januar 2021 finanziell unterstützt haben. Nette Leute.«
»Das Problem Israels ist nicht die Armee als solche«, notiert er, »sondern die jahrzehntelange Besetzung der eroberten Gebiete.« Vom »Wahnsinn nach 1967«, spricht er, »und der andauernden Besetzung der palästinensischen Gebiete«.
Friedländer ist skeptisch bis pessimistisch, was die Hoffnung auf eine Lösung der Konflikte in der Region betrifft. Der Weg dorthin sei nur über eine Zweistaatenlösung zu erreichen, ist er sich sicher. Die befürwortet auch US-Präsident Biden. Aber zu beiden Seiten der Front gebe es dafür derzeit womöglich keine politischen Mehrheiten. Anfang Juli urteilt Friedländer, dass »der Kampf für die Demokratie der Kampf einer Mehrheit« in Israel sei; aber er sei sich nicht sicher, »ob der Kampf für eine schrittweise Zweistaatenlösung denselben Anteil der Bevölkerung hinter sich vereinen könnte. Das ist meiner Meinung nach unser Grundproblem«.
Eine bittere Fehleinschätzung unterläuft Friedländer jedoch in seinem Tagebuch, die aufzeigt, wie verwirrend und schwer durchschaubar die Gesamtsituation ist. Im Angesicht von Feuergefechten notiert der Historiker am 12. Mai: »Interessant ist übrigens, dass die Hamas sich nicht in die Auseinandersetzung einmischt. Sie will die Zivilbevölkerung, für die sie verantwortlich ist, schonen, während der Dschihad ausschließlich auf den militärischen Kampf gegen Israel fixiert ist.« Knapp fünf Monate später wird dieser Glaube durch das Massaker an jüdischen Zivilisten auf grauenhafte Weise zunichtegemacht.
Trotz dieser bitteren Fehleinschätzung nimmt das dem Tagebuch Friedländers aber wenig von seiner Bedeutung. Man bekommt hier Einsichten, Analysen, Kommentare und biografische Notizen, die unersetzlich sind und auf gedrängtem Raum eine gute Orientierung geben. Der 91-jährige Historiker hat ein flammendes Plädoyer für Vernunft und Frieden verfasst, analytisch, verzweifelt, ratlos, zornig, fesselnd und aufklärend. Viel Stoff zum Nachdenken und Debattieren.
Saul Friedländer: Blick in den Abgrund. Ein israelisches Tagebuch. A. d. Engl. v. Andreas Wirthensohn. C. H. Beck, 237 S., geb., 24 €.
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