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Lernwelt auf Distanz zur Technologie
Digitale Lerntechnologien können sich im deutschen Bildungssystem bisher nur schlecht durchsetzen
Sie ähneln ein wenig den beiden Königskindern, die sich so sehr mögen, aber doch nicht zusammenkommen können: Digitaltechnologien und das deutsche Bildungssystem. Der Corona-Lockdown mit dem aus der Not geborenen Globalexperiment des »Distanzlernens« hätte einen Innovationsschub bringen können. Aber die Pandemie führte, wie die jüngsten Pisa-Ergebnisse zeigen, stattdessen zu einem Kompetenzabstieg der jungen Generation auf breiter Front und einer Bildungsspaltung. Warum haben Bildungstechnologien das nicht verhindern können? Die Antwort: »Educational Technologies« (Ed Tech) fristen in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern noch immer ein Schattendasein.
Schon die bildungspolitische Großaktion des »Digitalpakts Schule«, angestoßen durch ein Milliarden-Füllhorn aus dem Bundesbildungsministerium, offenbarte bei der Umsetzung die Distanz zwischen Lernwelt und Technologie. Allerdings wurden die größten Barrikaden von einer wenig förderlichen Bürokratie errichtet, muss der Vollständigkeit halber hinzugefügt werden.
Aber Ed Tech ist mehr als lediglich »Digitales Lernen«. Mittels Rückkanal und auf Künstliche Intelligenz (KI) gestützte Auswertung der Informationen wird ein auf den einzelnen Schüler zugeschnittenes individuelles interaktives Lernen möglich. Die KI lernt beim Unterricht am Bildschirm ihrerseits von den Schülern und kann ihre nächsten Fragen deren Lernfortschritt anpassen. Keiner wird zurückgelassen, so das bildungstechnische Versprechen der Ed Tech-Anbieter.
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Schon 2017 wurde im IT-Journalismus diskutiert, warum es in Deutschland kaum Ed Tech gibt. Die strukturelle Dominanz des analogen Unterrichts mit seiner etablierten Didaktik wurde als einer der Gründe angeführt, also Akzeptanzverweigerung. Aber auch eine Angebotsschwäche, mit der die meisten Neuerungen auf dem Markt zu kämpfen haben.
Der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft hat in einer Untersuchung 2021 festgestellt, dass in Deutschland trotz diverser Bestrebungen der Anteil an Gründungen im Bildungsbereich im europäischen Gesamtvergleich niedrig ist. »Während beispielsweise in Ungarn Gründungen im Bildungsbereich 4,3 Prozent und in Bulgarien 3,6 Prozent der gesamten Gründungen ausmachen, liegt Deutschland mit 1,6 Prozent abgeschlagen im hinteren Mittelfeld des Rankings«, heißt es in der Studie.
Das Institut für Innovation und Technik (IIT) in Berlin hatte 2020 eine empirische Analyse durchgeführt und weltweit 5324 Ed Tech-Unternehmen ermittelt. »In Europa liegt hinsichtlich der absoluten Zahlen das Vereinigte Königreich mit 435 Ed Tech-Gründungen deutlich an der Spitze«, so die Innovationsforscher. Es folgen Spanien mit 107 und Deutschland mit 104 Fällen. Bei den Zahlen der Ed Tech-Gründungen in Deutschland lag Berlin mit 50 Start-ups an der Spitze. Es folgten Bayern mit 20 und Nordrhein-Westfalen mit 13 Gründungen. In fünf Bundesländern fanden sich keine Ed Tech-Gründungen. Die IIT-Forscher bilanzierten: »Aus europäischer und weltweiter Perspektive schneidet Deutschland sowohl hinsichtlich der Ed Tech-Gründungsintensität als auch der Ed Tech-Spezialisierung deutlich unterdurchschnittlich ab.«
Um die Position Deutschlands zu stärken, wurde ein staatliches Förderprogramm für den Ed Tech-Bereich vorgeschlagen. Auch die deutschen Hochschulen sollten sich stärker engagieren, indem sie etwa erfolgreiche Netzwerkansätze aus dem Ausland übernehmen. »Der Kontakt zu anderen Start-ups, Investoren, Mentoren, Wirtschaftsförderung und Industrie spielt neben der hohen Praxisorientierung eine wichtige Rolle in der Gestaltung der Programme«, hebt die IIT-Untersuchung hervor.
Von daher war es konsequent, dass das Thema Ed Tech in innovationsorientierten Förderprogrammen aufgegriffen wurde. Etwa im 2023 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) erarbeiteten Programm für »Soziale Innovationen«. Dort wird zum Beispiel ausgeführt, welche positiven Wirkungen von »digitalen Bildungsinnovationen« ausgelöst werden: »Sie können zum besseren Kompetenzerwerb, zur flexiblen und inklusiven Lernerfahrung sowie zur Individualisierung und Durchlässigkeit des Lernprozesses beitragen.«
Eine Innovations- und Gründungsinitiative für digitale Bildungstechnologien würde »ein durch Offenheit, Kooperation und Durchlässigkeit geprägtes Bildungssystem stärken, die Entstehung und den Einsatz hochwertiger Bildungsinnovationen fördern und die Gründung (und das Wachstum) von Ed Tech-Unternehmen unterstützen«, wird im BMBF-Papier ein innovatives Zukunftsbild gezeichnet.
Auch die »Start-up-Strategie« aus dem Bundeswirtschaftsministerium listet im Jahr zuvor unter den nötigen Schritten zur Verbesserung der Gründerkultur etwa die »einfachere Gestaltung öffentlicher Ausschreibungen und Beschaffungsprozesse auch für Bildungseinrichtungen« auf. Allerdings vermerkt der Fortschrittsbericht vom Herbst 2023, dass man hier noch nicht weitergekommen ist: Bei »Umsetzungsstand« taucht ein rotes Kästchen auf.
Wie Ed Tech auch in den Hochschulen besser genutzt werden kann, hat das Berliner Humboldt-Institut für Internet und Gesellschaft (HIIG) in Kooperation mit der Fernuniversität Hagen näher untersucht. »In unseren Fallstudien haben wir festgestellt, dass der produktive und kreative Einsatz von Ed Tech in hohem Maße von der Motivation derjenigen abhängt, die sie nutzen«, heißt es in einem Projektbericht. Das Know-how für die Nutzung von Ed Tech könne »durch eigenständiges Experimentieren, aber auch durch Training oder technische Unterstützung anderer Kolleg*innen gestärkt werden«. Andere Motivationsfaktoren seien das Feedback der Studierenden, eine Anerkennung durch die Leitung der Hochschule oder finanzielle Anreize.
Ausgewertet wurden die Erfahrungen von 181 Hochschulmitarbeitern in 25 Ländern, aus denen die HIIG-Arbeitsgruppe organisatorische Herausforderungen bei der Einführung von Ed Tech an der Hochschule destillierte. »Ich muss sagen, wenn man erst einmal ein paar Werkzeuge beherrscht, sind didaktische Schwierigkeiten kein Thema mehr. Das sind Werkzeuge, die mittlerweile genauso gut funktionieren wie Bleistift und Papier«, äußerte sich ein Wissenschaftler in der Befragung.
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