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Fútbol feminista in Argentinien unter Druck
Unter dem rechtslibertären argentinischen Staatschef bangt der Fußballklub La Nuestra in Buenos Aires um seine Zukunft und die seiner Spielerinnen
»Me paro en la cancha como me paro en la vida« (Ich stehe so auf dem Feld, wie ich im Leben stehe) ist auf dem Rücken des weiß-schwarzen Fußballtrikots von Mónica Santino zu lesen. Während sich allmählich Spieler*innen am Eingang zum Fußballfeld versammeln, läuft Mónica im Hintergrund telefonierend auf und ab. Die Koordination des heutigen Trainings scheint aufwendig, ein Team des Ministeriums für Frauen, Geschlechtergerechtigkeit und Diversität wird sehnlichst mit Sportequipment erwartet.
Mónica ist Trainerin und Mitgründerin des feministischen Fußballklubs La Nuestra im Barrio Múgica, das als »Villa 31« bekannt ist. Trotz ihrer opulenten grauen Lockenmähne und ihres kräftigen Körperbaus zeugt Mónicas Präsenz von Zurückhaltung. »Moni ist unsere Trainerin, aber nicht die Protagonistin des Klubs«, erzählt Conti, eine der Spieler*innen. »Sie lässt uns den Vortritt, wenn es darum geht, in der Öffentlichkeit zu sprechen. Von ihr habe ich gelernt, dass ich mir Raum nehmen darf.«
Mit ihren rund 60 000 Einwohner*innen ist Villa 31 das größte und älteste Armenviertel in Buenos Aires. Ursprünglich gebaut für die Hafenarbeiter*innen – meist europäische Migrant*innen, die Anfang des 20. Jahrhunderts vor Kriegen und Arbeitslosigkeit geflohen waren – reicht die Villa 31 vom zentralen Busbahnhof Retiro bis zum innerstädtischen Flughafen Jorge Newbery. Autobahnen und Gleise durchziehen das Gebiet. Und so ist es wenig erstaunlich, dass die Villa 31 permanent von der Räumung und städtebaulichen Maßnahmen bedroht ist.
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Tagtäglich werfen Tourist*innen aus der ganzen Welt mit mulmigem Gefühl verstohlene Blicke in die unasphaltierten Gassen des Barrios, während sie auf den nächsten Reisebus warten oder ihren Flieger besteigen. Die Bewohner*innen der Villa 31 wiederum können von den Dächern ihrer Häuser in die Swimmingpools des angrenzenden Barrio Norte blicken, eine der wohlhabendsten Gegenden der Stadt. Hier treffen Welten aufeinander. Die schreienden Kontraste und Ungleichheiten können auch von den aufhübschenden Farben nicht überdeckt werden, die im Rahmen einer »Urbanisierungsmaßnahme« 2009 an die Hausfassaden des Barrios gepinselt wurden.
»Zu Hause wurde mir Fußballspielen verboten«, fährt La-Nuestra-Spielerin Conti fort. »Das ist was für Jungs, hat man mir gesagt. Bei La Nuestra habe ich junge Frauen kennengelernt, die so sind wie ich. Hier kann ich meine Sexualität frei zeigen, ohne dafür verurteilt zu werden. Seit ich hier spiele, habe ich aufgehört, Drogen zu konsumieren und zu klauen. Ich bin stolz darauf, denn nicht viele Menschen hier im Barrio erreichen mein Alter. Viele meiner Freund*innen sind bereits tot, andere sitzen im Gefängnis. Wenn man mit der Gewalt aufwächst, ist es schwer, aus dieser Umgebung auszubrechen. Der Fußball hat mir dabei geholfen.«
Die jungen Mädchen, Frauen und Queers versammeln sich auf dem Spielfeld, das von einem hohen Zaun und bunten mehrstöckigen Wellblechhäusern umgeben ist. Aufwärmübungen.
»Frauenfußball ist etwas zutiefst Feministisches.« Trainerin Mónica Santino steht breitbeinig am Zaun des Fußballfelds, während sie die Spieler*innen beobachtet, die Hände in den Hosentaschen. »Argentinien ist das Land des Fußballs, aber die Frauen dürfen nicht mitspielen. Dass wir uns das Recht darauf zurückholen, ist an sich ein höchst politischer Akt.« Das Fußballfeld »Cancha Güemes« in der Villa 31 kann dabei laut La Nuestra als Symbol für kollektive Strategien interpretiert werden, die sich mit Stereotypen und Vorurteilen beschäftigen und sich an einem Ort, der historisch den Männern gehörte, patriarchalen Grenzen und Einschränkungen widersetzen. Jedoch geht es nicht nur um eine Rückeroberung von Räumen, sondern auch von Zeit. »Die Mädchen in diesem Barrio müssen sehr früh Aufgaben erwachsener Frauen übernehmen, zum Beispiel die Betreuung von Kindern und andere Hausarbeiten. Der Fußball ist damit auch eine Rückeroberung ihrer Freizeit, eben Zeit zum Spielen«, fügt Mónica hinzu.
In einer Welt, in der der weibliche Körper weiterhin zum Objekt gemacht und sexualisiert wird, sorge das Training bei La Nuestra auch dafür, einen positiven Bezug zum eigenen Körper zu gewinnen. »Den Körper auf diese Art einzusetzen und dabei Grenzen zu überschreiten, die dir von der Gesellschaft vorgegeben werden, das ist selbstermächtigend! Es ist kraftvoll und löst Freude aus! Fußball ist außerdem ein kollektiver Sport. Wir tun uns zusammen als Frauen und Queers.« All das greife Prämissen an, die das Patriarchat ihnen aufzwingt. Deshalb denkt Mónica, dass der feministische Fußball ein befreiender, ein revolutionärer Raum ist.
Im Jahr 2007 übernahm Mónica Santino ein kleines Team von Fußballer*innen und gründete auf Wunsch der Anwohner*innen La Nuestra, den »Club sin techo« (Klub ohne Dach), der für Mónica ein wirkmächtiges Werkzeug darstellt, um jungen Frauen und Queers neue Perspektiven und Möglichkeiten der Lebensgestaltung aufzuzeigen. Auf diese Weise können Veränderungen im eigenen Werdegang angestoßen werden, so Mónica. Rund 150 Mädchen ab fünf Jahren, Frauen und Flinta* sind heute Mitglieder des Klubs und nehmen regelmäßig an Trainings teil.
Bei den wöchentlichen Treffen der Spieler*innen geht es nicht nur um ein Training im klassischen Sinne. Gefühle oder Probleme, die die Spieler*innen auch außerhalb des Fußballs umtreiben, sind in Gesprächsrunden fester Bestandteil der Trainingseinheiten. »Wir sprechen über alles Mögliche, aber oft geht es um Themen rund um sexuelle und reproduktive Gesundheit oder um den Druck, dem sich die Mädchen ausgesetzt fühlen, der ihren Lebenssinn allein auf das Kinderkriegen festschreibt«, erzählt Mónica.
Außerdem organisiert La Nuestra gemeinsame Reisen wie die regelmäßige Teilnahme am Encuentro Plurinacional de Mujeres y Disidencias (Plurinationaler Kongress von und für Frauen und Flinta*), der jährlich in wechselnden argentinischen Provinzen stattfindet. Darüber hinaus fährt das Team regelmäßig zu internationalen Fußballfestivals, zum Beispiel zum internationalen Frauenfußballturnier »Discover Football«, das die Spieler*innen schon nach Rio de Janeiro, Goa und Berlin brachte. Außerdem hat sich die Praxis etabliert, in den öffentlichen Raum zu gehen und dort spontan Fußballspiele zu initiieren, um weitere Compañeras zu erreichen und neue Mitspieler*innen zu gewinnen.
Die Stimmung an diesem Donnerstag ist ausgelassen. Es ist den Spieler*innen anzusehen, dass sie sich auf diesen Moment der Woche gefreut haben. Der Umgang miteinander ist freundschaftlich, locker und bestärkend. Aber Mónica Santino ist die Sorge ins Gesicht geschrieben: »Die Menschen in der Villa 31 haben in den letzten zwei Regierungsperioden unter Mauricio Macri (2015–2019) und Alberto Fernández (2019–2023) einiges durchgemacht. Das Einkommen der Bewohner*innen hat durch die Inflation der letzten Jahre massiv an Wert verloren, die Menschen werden immer ärmer.« Der Wahlsieg von Javier Milei und seiner rechts-libertären Partei La Libertad Avanza sei beängstigend. Die neue Regierung wolle den Staat auf ein Minimum reduzieren. Damit werden zuallererst die Gelder für die Ärmsten im Land gestrichen.
Die Mitarbeiter*innen des Ministeriums für Frauen, Geschlechtergerechtigkeit und Diversität fahren mit einem hellblauen Kleinbus vor und beginnen Fußbälle, Fußballschuhe und eine Soundanlage auszuladen. Es gibt eine herzliche Begrüßung und großes Hallo.
»Das Ministerium war ein wichtiges finanzielles Standbein von La Nuestra«, erklärt Mónica, während sie den Ankömmlingen nacheinander einen Kuss auf die rechte Wange drückt. »Sie haben uns mit Projektgeldern, staatlichen Programmen und Subventionen enorm unterstützt.« Dieses Ministerium wurde unmittelbar nach Amtsantritt von Milei abgeschafft. Alle Mitarbeiter*innen verlieren ihre Arbeitsplätze. Was dem Verein bleibt, sind finanzielle Hilfen aus dem Ausland, internationale Organisationen, die Sportprojekte mit feministischem Ansatz fördern. Einige Spieler*innen sind mittlerweile Trainer*innen und bekommen ein kleines Gehalt für ihre Arbeit. All diese Gelder werden dann wegfallen.
Auf dem Fußballfeld haben sich die rund 30 Spieler*innen mittlerweile in Gruppen aufgeteilt. Jede Gruppe wird von einer Trainerin angeleitet; eine von ihnen ist Conti. Sie weist die Spieler*innen an, einen kurzen Parcours zu durchlaufen. Mónica schirmt mit einer Hand ihre Augen ab, um trotz der nun tief stehenden Sonne das Feld zu überblicken.
Die neue Ministerin für Sicherheit, Patricia Bullrich, war schon während der Amtszeit von Mauricio Macri in derselben Funktion besonders für ihre repressive Politik gegenüber sozialem Protest bekannt. Mónica sorgt sich deshalb um viele Menschen, mit denen sie einen guten Kontakt pflegt: »Hier im Barrio gibt es eine sehr alte Tradition politischer Organisationen, die sich in der Vergangenheit gegen die Räumung und den Abriss der Villa 31, für würdige Lebensbedingungen, eine bessere Infrastruktur und Versorgung eingesetzt haben.« Diese Organisationen und ihre Mitglieder haben politische Verfolgung und extreme Repression zu fürchten, das könne man teilweise jetzt schon beobachten.
Die Spieler*innen des Klubs wachsen in einer Umgebung auf, die von patriarchaler und sexualisierter Gewalt geprägt ist. Die antifeministische Agenda der neuen Regierung ist in dieser Hinsicht ebenfalls beunruhigend. »Alle feministischen Errungenschaften der letzten Jahre stehen auf dem Spiel.« Mónica meint das Gesetz »Ley Micaela«, das alle staatlichen Akteure dazu verpflichtet, Politiken und Maßnahmen im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit voranzutreiben; das Gesetz, das freiwillige Schwangerschaftsabbrüche legalisiert; die neu gewonnenen Rechte der LGBTQI+-Community und viele weitere fortschrittliche Entwicklungen der letzten Jahre. Sie lehnt sich mit erschöpftem Blick gegen den Zaun: »Das politische Panorama ist traurig, bedrückend und beunruhigend. Aber wir wissen auch, dass wir in diesem Land eine lange Tradition sozialer Proteste haben. Ich habe die Hoffnung, dass wir als Gesellschaft für unsere demokratischen Werte und den Erhalt der Menschenrechte kämpfen und gewinnen werden«.
Die Trainingseinheit auf dem Feld ist zu Ende. Conti kommt mit schwerem Atem vom Spielfeld gerannt. Sie strahlt verschwitzt und bleibt vor uns stehen. »Heute weiß ich, dass das Vorbild, das ich früher in Mónica gefunden habe, in mir selbst steckt. Heute bin ich selbst Trainerin«, verkündet sie lächelnd. Sie blickt in Richtung Mónica. »Sollte der Tag kommen, an dem wir Trainer*innen kein Gehalt mehr bekommen, weil La Nuestra die Mittel nicht aufbringen kann, dann schwöre ich bei allem, was mir lieb ist: Ich werde trotzdem auf dem Feld stehen, denn dieses Feld, die Cancha, ist mein Leben.«
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