- Politik
- Armenien und Aserbaidschan
Bergkarabach-Konflikt: Blüten der patriarchalen Gewalt
Die Unterdrückung von Frauen erreicht im Konflikt um Bergkarabach eine neue Dimension
Der Lastwagen schaukelt den unbefestigten Weg hinunter. Der Fahrer steuert vorsichtig durch die vielen Schlaglöcher, fährt nur im Schritttempo. Dahinter drei weitere Autos. Die Kolonne will eine Waschmaschine liefern. Für eine Gruppe Geflüchteter aus Bergkarabach, die in Masis untergekommen sind, einer Stadt mit knapp 20 000 Einwohner*innen, 15 Kilometer von der Hauptstadt Jerewan entfernt. Bisher mussten sie mit der Hand waschen.
Am Ende der Straße öffnet sich eine weite Fläche, links steht ein Haus. Davor eine Gruppe von Frauen, umringt von zahlreichen Kindern. Aus den Autos springen Männer. Binnen Sekunden haben sie die Frauen umzingelt. Sie reden laut miteinander, alle rennen hektisch durcheinander. Mehrere schieben eine Sackkarre mit der Waschmaschine, jemand filmt die Aktion mit dem Smartphone, ein anderer macht Tonaufnahmen. Die Frauen stehen stumm in dem Chaos und schauen zu. Mit ihnen spricht niemand. Dieser Moment ist symbolisch für die Situation von Frauen in Konflikten.
Vor einigen Monaten ist die Lage in Bergkarabach erneut eskaliert. Ilham Alijew, der Präsident von Aserbaidschan, hatte bereits Anfang 2023 eine Blockade für die abtrünnige Region ausgesprochen, im Herbst folgte der militärische Angriff. Mehr als 100 000 Menschen mussten nach Armenien flüchten. Darunter diese Frauen in Masis, die sich vor dem Trubel in ihr Haus zurückgezogen haben. Ihre Namen wollen sie nicht in der Zeitung lesen. So richtig erzählen, was ihnen passiert ist, wollen sie auch nicht. Als die Übersetzerin zu erklären beginnt, worum es geht, winkt eine der Frauen sofort ab und verlässt unter Tränen den Raum.
Später wird sie zurückkommen und erzählen, dass ihr Mann im Krieg um Bergkarabach gefallen ist. Nun ist sie allein mit zehn Kindern. Eine der älteren Frauen ist ihre Mutter, die andere ihre Schwiegermutter. Unter Tränen berichtet letztere, dass sie in dem Konflikt bereits zwei Söhne verloren hat. Deren Fotos hängen eingerahmt an der kahlen Wand. In der spärlichen Behausung leben insgesamt 22 Menschen. Die Fenster schließen nicht richtig, das Dach ist undicht, es gibt nicht genug Betten für alle. Geschlafen wird auf dem Boden.
Während des Gesprächs entschuldigen die Frauen sich immer wieder, dass sie außer Wasser und Kaffee nichts anbieten können. In ihrem Zuhause hätten sie in so einem Fall den ganzen Tisch mit Essen beladen. Auf die Frage, was sie sich wünschen und was sie brauchen, antworten sie für das Kollektiv: richtige Betten, neue Fenster, eine bessere Isolierung für den Winter.
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Dieses Verhalten überrascht Lisa Matewosjan nicht. Die Leiterin des Women’s Center Shushi ist 2020 selbst als Geflüchtete nach Jerewan gekommen. Aber auch in der armenischen Hauptstadt holt der Krieg sie wieder ein. Zum Interview kommt sie 30 Minuten zu spät, entschuldigt sich, dass sie direkt von einer Beerdigung komme. Ihr Onkel sei bei der Explosion eines Benzintanks im September verletzt worden und nun vor wenigen Tagen gestorben. Das Interview will sie trotzdem machen. »In der armenischen Gesellschaft heißt es für Frauen immer zuerst: Mein Mann, meine Familie, meine Kinder. An sich selbst denken sie nicht. Sie haben niemals Priorität, nicht einmal für sich selbst«, erklärt sie. »Diese Frauen haben keine andere Wahl als weiterzumachen. Sie können sich nicht erlauben, Schmerz und Trauer zuzulassen. Wenn sie zusammenbrechen würden, wer kümmert sich dann um die Familie?«
Doch viele sind traumatisiert, weiß Ani Jilosan von der Organisation Women’s Support Center. »Seit 2020 verzeichnen wir eine Zunahme von Fällen häuslicher Gewalt um 20 Prozent. Wir wissen, dass die Covid-Pandemie, der Krieg, der andauernde Bergkarabach-Konflikt und allgemeine Unsicherheit die Gewalt in der Partnerschaft befeuern.« Ebenso wie der Militärdienst. »Wir sehen, dass die gefährlichsten Täter jene sind, die in einem Konflikt eingesetzt wurden. Es gibt ohne Zweifel eine Verbindung zwischen häuslicher Gewalt und politischer Gewalt oder politischem Terror.«
Doch das Leiden der Frauen findet nur selten Gehör. Zu groß ist die Achtung für die Soldaten. »Viele Frauen sehen, dass ihre Ehemänner im Krieg traumatisiert wurden«, sagt Jilosan. »Die daraus resultierende häusliche Gewalt nehmen sie stillschweigend hin. Für sie ist es schwer, aus der Situation herauszukommen, weil sie ihren Mann nicht im Stich lassen wollen.« Diese Spirale der häuslichen Gewalt wirkt sich auch auf die junge Generation aus. »Kinder, die häusliche Gewalt beobachten, sind häufig genauso traumatisiert wie die Frauen, die geschlagen werden. Deshalb sprechen wir von einem Teufelskreis der Gewalt«, erklärt Jilosan. »Diese Kinder, die ihren Vater als Aggressor und ihre Mutter als Opfer sehen, nehmen diese Rollenbilder oft mit in ihre eigenen zukünftigen Beziehungen.«
Während die Gewalt armenischer Männer gegen Frauen durch die Umstände des Krieges legitimiert werde, habe sich gleichzeitig eine Vorstellung entwickelt, dass der Körper der Frauen ein nationales Eigentum sei, erklärt Matewosjan. »In unserer Gesellschaft gibt es oft die Vorstellung, dass Frauen heilig sind. Niemand darf sie berühren. Vor allem kein Mann aus Aserbaidschan.« So würden auch Mädchen und Frauen erzogen. »Er ist der Feind. Wenn er dich anfasst, ist die Schande doppelt so groß. Sie hat dann als Mensch keinen Wert mehr. Frauen geben sich selbst ohnehin oft die Schuld für eine Vergewaltigung und denken, sie seien ein schlechter Mensch. Aber dann halten sie sich auch noch für schlechte Armenierinnen.«
Diese Besitzansprüche wirken sich auch auf Schwangerschaftsabbrüche aus. »Abtreibungen nach Geschlecht sind ein großes Problem in Armenien«, sagt Zahuri Howjannisjan vom Women’s Support Center. »Wir haben eine der höchsten geschlechtsspezifischen Abtreibungsraten weltweit.« Auf 100 Mädchengeburten im Jahr 2019 kamen 112 Jungen. »Durch den Krieg und die vielen gefallenen Soldaten, gibt es jetzt dieses Narrativ, dass wir wieder mehr Jungen brauchen, um unser Land zu verteidigen.« Sie erinnert sich noch an den vorigen Krieg 2020, als Feminist*innen dieses Thema in die Öffentlichkeit brachten; da schlug ihnen viel Hass entgegen. Anstatt Wege zu suchen, um den Konflikt zu beenden, sei über Abtreibungen gestritten worden, erinnert sich Howjannisjan. In der Diskussion seien die Körper von Frauen oft darauf reduziert worden, männliche Babys zu produzieren.
Destruktivität erleben die Aktivistinnen oft, wenn es um feministische Anliegen geht. Oft seien sie angegangen worden, sich doch lieber um die »richtigen« Probleme wie den Krieg zu kümmern, anstatt um private Familienangelegenheiten. »Die Belange von Frauen werden in einem Land, das sich im Konflikt befindet, immer an den Rand gedrängt«, sagt Jilosan. »Sie werden als unwichtig angesehen.«
In Bergkarabach ergaben sich während der Monate der Blockade viele Risiken für Frauen. So wurde wegen des Benzinmangels oder des fehlenden Zugangs zum Gesundheitssystem ein Anstieg von Fehlgeburten verzeichnet, erklärt Jilosan. »Durch eine fehlende pränatale oder postnatale Pflege erlitten Frauen oft übermäßige Blutungen oder Fehlgeburten. Durch die Blockade und Flucht kam es auch zu Mangelernährung«, berichtet sie weiter. »Wir wissen, dass viele Frauen versuchten, die begrenzten Lebensmittel an ihre Kinder und ältere Menschen zu verteilen und nicht an sich selbst.«
Sevinj Samadzade kennt die Situation von der anderen Seite der Grenze. Sie ist in Aserbaidschan in einem Ort nahe der Grenze zu Georgien und Armenien aufgewachsen. Nach dem Krieg in Bergkarabach 2020 hat sie die Initiative Feminist Peace Collective gegründet, um einen Austausch von feministischen Perspektiven zu schaffen. Die Webseite ist mittlerweile in Aserbaidschan geblockt.
Patriarchale Gewalt gegen Frauen sei schon lange ein Problem, sagt sie, sowohl in Armenien als auch in Aserbaidschan. »Aber der Krieg normalisiert Gewalt im Verständnis der Bevölkerung.« Manche meinen, dass das mit dem ersten Krieg um Bergkarabach in den 90er Jahren zusammenhänge, »weil in dem sehr gewalttätigen und nationalistischen Staatsbildungsprozess derart verkrustete Geschlechterrollen entstanden sind, die die patriarchalischen Staaten zur eigenen Stärkung brauchten«, erläutert Samadzade. Daraus resultiere auch, dass Frauen in Aserbaidschan keinerlei politische Macht hätten.
Ähnlich sieht es in Armenien aus. Auch dort würden Frauen in der Politik marginalisiert, berichtet Jilosan. »Wir haben ein Quotensystem von 30 Prozent für Frauen in der Politik, aber in Wirklichkeit haben sie keine Entscheidungsbefugnis auf höchster Ebene. Es kommt vor, dass Frauen gewählt werden, dann aber zurücktreten und ein Mann das Amt anschließend übernimmt. Die 30-Prozent-Quote ist also nie wirklich erreicht worden.«
Samadzade sieht die Frauen auf beiden Seiten des Konflikts in einer ähnlichen Situation: »Die jüngere Generation von Frauen in Armenien und Aserbaidschan hatte nie eine Chance, miteinander zu kommunizieren. Sie denken, dass sie sehr unterschiedliche Hintergründe haben, aber sobald sie zusammenkommen und sich austauschen, stellen sie fest, dass sich ihre Geschichten gegenseitig ergänzen.«
Deshalb hat das Feminist Peace Collective länderübergreifend eine #MeToo-Aktion für den Südkaukasus gestartet und Frauen darum gebeten, ihre Geschichten zu erzählen – ohne ihre Herkunft zu nennen. »Wenn man die Geschichten liest, weiß man gar nicht, woher sie kommen, weil sie so ähnlich sind«, meint Samadzade. »Ich denke, dass sie einer ähnlichen Form von Gewalt ausgesetzt sind und den gleichen Schmerz teilen. Das wiederum verbindet die Frauen in Armenien und Aserbaidschan mehr, als der Krieg sie trennt.«
Deswegen hält sie jetzt den Moment für Frauen in Aserbaidschan und Armenien gekommen, um ihre Trauer und ihren Schmerz endlich politisch zu machen. »Bisher dachten alle, das sei etwas Persönliches oder Kulturelles. Aber das ist es nicht.« Samadzade hofft darauf, dass sich die Frauen über die Grenze hinweg vereinen – gegen das Patriarchat.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.