Şafak Sarıçiçek: »Gelungene Lyrik ist Zen-Lyrik«

Poesie muss sich wieder lohnen: Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Şafak Sarıçiçek

  • Interview: Yelizaveta Landenberger
  • Lesedauer: 6 Min.
Die Bekenntnis- und Empfindsamkeitslyrik vermeiden: Şafak Sarıçiçek
Die Bekenntnis- und Empfindsamkeitslyrik vermeiden: Şafak Sarıçiçek

Herr Sarıçiçek, schön, dass Sie Zeit haben für ein Gespräch. Derzeit absolvieren Sie ein Rechtsreferendariat und schreiben – gleichzeitig.

Ich bin gerade in der Verwaltungsstation am Regierungspräsidium, es geht da um Ausländerrecht, also unter anderem auch um Abschiebungen. Für mich ist das ein völlig neues Gebiet, wo die Rechtsfragen plötzlich eine heftige, sehr einschneidende Wirklichkeit bekommen. Es ist lehrreich zu sehen, wie die unterschiedlichen Beteiligten denken und argumentieren, Behörden und Anwälte. Migrationsrecht hat eine enorme Brisanz heutzutage. Der Juristenberuf ist spannend, aber ich frage mich schon, insbesondere wenn man gewisse Urteile und Entscheidungsgründe liest, ob manche Dinge im Recht wirklich so vernünftig sind. Marx hatte ja die Position, das Recht sei letzten Endes Machtinstrument der herrschenden Klassen.

Haben Sie Ambitionen, etwas zu verändern?

Ich bin der Ansicht, dass man innerhalb der Rechtsordnung auf jeden Fall etwas bewegen kann. Auf einer anderen, symbolischen Ebene kann Lyrik transformativ sein und auf die dunklen Orte in der Gesellschaft hinweisen, wo sich Leute ansehen, aber nicht sehen. Das erforsche ich beispielsweise in meinem Gedicht »Levinas erkennt ihnen das Sehen ab«. Da sondiere ich eine echte Begebenheit: Eine Hochzeit in Deutschland, die ich als Kind besuchte – ich verbrachte einige meiner Kindheitsjahre im Ruhrgebiet. Bei dieser Hochzeit waren draußen vor dem Eingang Glatzköpfe in Bomberjacken, die standen da einfach so und haben die ganze Zeit zu uns rübergestarrt. Ich fand das als Kind sehr bedrohlich, es hat sich mir eingeprägt. Beim Aldi in Dahlhausen gab es so ein fettes Graffiti: »Türken raus«, woran ich immer vorbeiging auf dem Weg zum Kindergarten. Ich möchte zumindest in meinem kleinen Umfeld etwas bewegen, mit meiner Lyrik. Aber klar, wer liest schon Lyrik? Meist Leute aus dem Bildungsbürgertum und der Mittelschicht.

Schreiben Sie gerade an etwas?

Ich lese momentan viel, das gehört zum Schreiben dazu. Das ist eigentlich auch Schreiben: Schreiben im Kopf. Man sammelt und später kommt dann der Drang, alles aufzuschreiben. Gerade lese ich von Balzac »Verlorene Illusionen«, ein bisschen Hegel und Elif Batuman. Außerdem arbeite ich an einem Prosaprojekt zu intergenerationalem Trauma, das steht aber noch am Anfang.

Translinguale Poesie ist ziemlich trendy, aber Sie schreiben konsequent fast ausschließlich auf Deutsch.

Ich bin mit beiden Sprachen, Türkisch und Deutsch, als Muttersprachen groß geworden. Meine Mutter ist hier in Deutschland aufgewachsen, ihre Eltern waren Gastarbeiter. Meine Omas haben mit mir Zazaki gesprochen, ich verstehe es, kann selbst aber nur auf dieser Sprache fluchen. Das Englische assoziiere ich mehr mit Räumen der Freiheit, mit Weltbürgertum. Diese Sprachenvielfalt macht viel mit dem Denken, es macht einen offener, neugieriger und man bekommt einen spielerischen Umgang mit Sprache.

In meinem Buch »Jamsids Spiegelkelch« (2019) habe ich Einschübe auf Persisch und Kurdisch drin. Aber generell schreibe ich weniger translingual. Man sollte das nicht machen, nur weil man einem Trend nachgibt, wie es gerade in der postmodernen Lyrik der Fall ist. Translingualität sollte immer eine Funktion haben. Ich hatte Experimente auf Türkisch mit 13 oder 14. Dabei fühle ich mich doch auch immer im Deutschen ein wenig fremd, deswegen versuche ich den Satzbau zu brechen beziehungsweise meinen eigenen Umgang damit zu finden. Gerade wegen des dominanten Status der deutschen Sprache möchte ich, als Angehöriger zweier Minderheiten in der Türkei, Alevite und Zaza, das Rigide in ihr nicht einfach so stehenlassen. Vielmehr eröffnet Mehrsprachigkeit ein neues, freieres Denken von Sprache. In meinem Gedicht »Peripher« ist eine Verbundenheit über eine gemeinsame Erfahrung der Heimatlosigkeit verarbeitet. Ich achte stets darauf, nicht in eine Schneise der Bekenntnis- und Empfindsamkeitslyrik zu gelangen, sondern etwas, was eigen ist, zu erschaffen – etwas, was möglichst nicht in Allgemeinplätze abdriftet.

Das vermeiden Sie meines Erachtens sehr gut, indem Sie in Ihren Gedichten auf eher ungewohnte Bilder und Wortkombinationen zurückgreifen.

Das finde ich gerade so spannend an den französischen Surrealisten und an Paul Celan: das Hermetische in der Sprache. Ich versuche zu vermeiden, zu sehr in die Sphäre des Autobiografischen zu gelangen, Details preiszugeben. Ich halte mich da gerne an T. S. Eliot, der in seinen Essays im Grunde sagt: Gelungene Lyrik ist Zen-Lyrik. Je impersonalisierter sie ist, desto besser. Das heißt nicht, dass sie nichts mit einem selbst zu tun haben darf, es geht eher um das Vermeiden des oftmals gepflegten Therapeutischen.

Anti-Herzschmerz-Lyrik?

Ja, man braucht Abstraktion.

Finden Sie es frustrierend, dass das Lyriker-Dasein so schlecht bezahlt ist?

Absolut. Wie wenig Lyrik wertgeschätzt wird. Oder allgemein: Dass schnell an der Kultur gespart wird, als ob sie Luxus wäre. Schriftsteller sind so wichtig, weil sie jenseits der Profit-Logik gesellschaftlichen Reichtum aufbewahren. Jeder Mensch hat das Potenzial, Lyrik zu rezipieren, aber man ist zu gehetzt. Deswegen beschäftigt sich hierzulande hauptsächlich eine akademisierte Bubble damit. Das muss nicht so sein: In der Türkei wird Lyrik mehr wertgeschätzt, da kann ein Bauer Gedichte von Ahmed Arif oder Nazim Hikmet vortragen, da hat Lyrik wirklich noch eine kollektive Funktion – auch vermeintlich schwierige Lyrik. Dass Lyrik in Deutschland so ein geringer Stellenwert zukommt, weist darauf hin, dass unsere Gesellschaft ins Konsumistische abrutscht. Die Lyrik, die immerhin noch breiter rezipiert wird, ist oft so trivial. Das hängt mit den Produktionsverhältnissen und der Aufmerksamkeitsökonomie unserer Gesellschaft zusammen. Und wenn Lyrik wertgeschätzt wird, dann auf technokratische Weise: Gedichtanalysen mit eindeutigen Deutungen. Damit bereitet man so vielen Generationen von Kindern Hass auf diese schöne Form – und man banalisiert sie.

Die Fischfresser-Zyklus-Gedichte in Ihrem neuen Lyrikband »Wasserstätten« gefallen mir besonders gut. Darin geht es um Massenproduktion von Fisch einerseits, Ausbeutung und Entfremdung der Arbeiter*innen, die mit dem Fisch hantieren, andererseits – wie Menschen in Gastronomieberufen gewissermaßen selbst zu Fisch werden. Aber wieso sind Wasser und Fische in Ihrer Lyrik so präsent?

Die Wasserthematik zieht sich durch meine gesamte Lyrik. Fische können Verschiedenes symbolisieren: das Weibliche, das Kind, Verletzlichkeit, Unschuld, Naivität. Wasser hat dieses Verbindende und Fluide, es umgeht Hindernisse, findet seinen Weg. Gleichzeitig ist es das Verbindende im geografischen Kontext, bewegt sich zwischen Ländern, so wie ich. Und es gibt diese mystische Dimension: Wir können Wasser nicht richtig erfassen, gleichzeitig bestehen wir selbst zu einem erheblichen Teil daraus. Der Zyklus hat sich ergeben, weil ich selbst in der Gastronomie gearbeitet habe. Hier ist übrigens noch eine Brandnarbe davon an meinem Arm.

Sie verarbeiten also Ihre Gastro-Erfahrung mit Fisch?

Ich hatte einige Monate einen Gastronomie-Job während des Staatsexamens, parallel zu einem Job in der Bibliothek. Spannend fand ich da den Übergang zwischen dem Produkt und dem Produzierenden: Du verlierst deine Menschlichkeit und wirst zu einer Art Fisch. Fische verkörpern zugleich so etwas Urtümliches. Ich verstehe nicht ganz, was in ihnen vorgeht. In der alevitischen Mystik beispielsweise wird der Schutzheilige Hizir auf einem Fisch dargestellt. Wasser und Fische in dieser völlig durchtechnologisierten kapitalistischen Welt – das ist so ein Rest, der sich der Rationalität entzieht.

Interview

Şafak Sarıçiçek (*1992 in Istanbul) ist ein in Heidelberg lebender deutschsprachiger Dichter mit Zaza-Wurzeln. Er studierte Jura in Heidelberg und Kopenhagen und absolviert aktuell sein Referendariat. Bislang veröffentlichte er sechs Lyrikbände. Zuletzt erschien im Herbst 2023 sein neuer Gedichtband »Wasserstätten«. 2023 erhielt er den Hanns-Meinke-Preis sowie ein Jahresstipendium für Literatur der Kunststiftung Baden-Württemberg.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.