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Journalismus als Kampfsport
Olivier David hält nichts von Berichten aus deutschen "Problemvierteln"
Die Segregation in Deutschland nimmt laut Zahlen des Berliner Wissenschaftszentrums zu. Dort, wo schon 2005 die Zahlen Armutsbetroffener hoch waren, sind sie jetzt in aller Regel weiter angestiegen. Neben Zuwanderung dürfte vor allem der frei drehende Wohnungsmarkt die Spaltung verschärfen. Allein im Zeitraum von September 2021 bis September 2022 erhöhte sich die durchschnittliche Miete um 10,9 Prozent.
Das zunehmende Auseinanderklaffen unserer Gesellschaft führt jedoch nicht zu anhaltenden Sozialprotesten. Im Gegenteil: Es ist erstaunlich still in diesem Land, sieht man vom reflexhaften Gepolter von Rechtsaußen ab. Eine Erklärung hierfür hat die Ökonomin Lisa Windsteiger. In einem Interview sagt sie: »Wenn die Ungleichheit steigt, kann das paradoxerweise dazu führen, dass sie aus der Lebensrealität der Menschen sogar eher herausrückt.«
Und das Wiederum spielt der Politik in die Karten, deren Spielball Armutsbetroffene sind. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) tritt mit seinem Vorschlag, Bürgergeld-Zahlungen bei verweigerter Kooperationsbereitschaft für zwei Monate auszusetzen, in gewohnter Manier nach unten.
Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien sein erstes Buch »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen reflektiert. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. David studiert in Hildesheim literarisches Schreiben. Für »nd« schreibt er in der 14-täglichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen.
Anstatt zu verbittern, ist es interessanter sich zu befragen: Was kann ich diesen Schweinereien in meiner Arbeit entgegensetzen? Darüber hinaus gilt es, sich zu fragen: Muss ich die immergleichen Sozialreportagen aus den Elendsvierteln liefern, mal knalliger, wie bei der »Spiegel«-Reporterin, die einige Monate Jugendliche der Neuköllner High-Deck-Siedlung begleitete, mal etwas ausgeruhter, wie hier bei der »taz«?
Der Soziologe Pierre Bourdieu schreibt über die Frage der Verantwortung von Journalist*innen zur Berichterstattung über soziale Fragestellungen: »So sitzt gewiss die Wahrheit dessen, was sich in den »Problemvorstädten« abspielt, nicht an diesen gewöhnlich übergangenen Orten«. Der Franzose fragt sich, ob man von Journalist*innen, die über »die in diesem oder jenen Wohnviertel der Pariser oder Lyonaiser Vorstadt vorgekommenen ›Ereignisse‹ so gelehrte Abhandlungen schreiben, erwarten kann, dass sie sich wirklich über den eigenen Beitrag des Journalismus zur Produktion des ›Ereignisses ‹ (…) den Kopf zerbrechen?«
Ich würde sagen: Sie müssen es sogar! Bis die Redaktionen und Schreibstuben proportional gerecht von Journalist*innen aus der Arbeiter*innenklasse bevölkert werden, vergehen hundert Jahre. Nicht gesagt ist, ob sich die Berichterstattung wirklich verbessern wird, wenn nur genügend Arbeiterkinder in den Redaktionen sitzen.
Im Dokumentarfilm »Soziologie ist ein Kampfsport« sagt Bourdieu über Jugendgewalt: »Man schließt automatisch die Möglichkeit aus, dass die Ursachen der Gewalt außerhalb des Universums der Gewalt liegen«. Nach Bourdieu hätten sie unter anderem mit Arbeitslosigkeit und Jobunsicherheit zu tun. Wenn ich nun die Behauptung in den Raum stelle, dass nicht nur die Soziologie, sondern auch der Journalismus ein Kampfsport ist, dann ist der schwarze Gurt für dieses Jahr vergeben: Journalist*innen müssen mehr über die Gründe für Jugendgewalt, für Arbeitslosigkeit und Apathie berichten. Vielleicht liegen die sozialen Probleme nicht im Alltag Armutsbetroffener begründet. Wer weiß.
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