»Der AfD den Boden entziehen – das ist der Job der Linken«

Der Linke-Vorsitzende Martin Schirdewan über den gesellschaftlichen Rechtsruck und das soziale Profil seiner Partei

  • Interview: Wolfgang Hübner, Uwe Sattler
  • Lesedauer: 9 Min.

Herr Schirdewan, nach der Klärung des Dauerkonflikts mit Sahra Wagenknecht wollte Die Linke beim Jahresauftakt am Wochenende mit Optimismus ins Wahljahr starten. Nun ist überraschend der Bundesgeschäftsführer Tobias Bank zurückgetreten – mit scharfer Kritik am Parteivorstand, der seiner Ansicht nach »fast alles auf Bewegungen außerhalb von Parlamenten sowie auf städtische Milieus« konzentriert. Er spricht auch von »vermeintlichem innerparteilichen Meinungspluralismus«. Was läuft da schief in der Linken?

Ich habe Tobias’ Rücktritt mit Bedauern zur Kenntnis genommen und danke ihm für die geleistete Arbeit. Die gute und umfassende Vorbereitung eines Europawahlkampfs ist eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe. Daher bin ich froh, dass wir mit Ates Gürpinar und Katina Schubert zwei erfahrene Wahlkampfleiter gewonnen haben, die diese Aufgabe jetzt übernehmen.

Was denken Sie, wenn der Geschäftsführer, der auch Wahlkampfleiter ist, nicht zu den Wagenknecht-Anhängern gehört, aber Kernpunkte ihrer Kritik bestätigt?

Interview

Martin Schirdewan ist seit dem Sommer 2022 neben Janine Wissler Vorsitzender der Linkspartei. Er ist auch Ko-Vorsitzender der linken Fraktion im EU-Parlament. Gemeinsam mit Wissler legte er zum politischen Jahresauftakt der Linken an diesem Wochenende ein Strategiepapier »Am Kipppunkt: Gerechtigkeit stark machen« vor. Darin wird beschrieben, wie Die Linke gesellschaftlichen Druck auf die Ampel-Regierung und für einen Politikwechsel aufbauen will. Die zentralen Forderungen: Schuldenbremse und EU-Fiskalregeln abschaffen, um Investitionen etwa in die öffentliche Infrastruktur zu ermöglichen. Große Vermögen und Extraprofite aus Krieg und Krisen abkassieren, um Krisenlasten gerechter zu verteilen. Preisdeckel für Grundnahrungsmittel, Strom und Heizung, um Menschen mit kleinen Einkommen zu entlasten.

Die inhaltliche Begründung kann ich nicht nachvollziehen, ich halte sie für falsch. Wir haben ja gerade einen erfolgreichen Bundesparteitag hinter uns, der seine Positionen mit breiten Mehrheiten gefunden hat. Und da kann von einer einseitigen Konzentration auf Bewegungen und Großstädte doch keine Rede sein. Dafür würde ich als Parteivorsitzender auch nicht zur Verfügung stehen. Wir wollen dieses Jahr in Thüringen unseren Ministerpräsidenten verteidigen, unsere ostdeutschen Landtagsfraktionen stärken, bei der Europawahl mit einem starken Ergebnis abschneiden und streben einen sozialen Politikwechsel im Bund an.

Der Rücktritt ist eindeutig ein Tiefschlag bei den Bemühungen eines Linke-Neustarts. Können wir daraus lernen, dass die Richtungskämpfe in der Linken mit dem Austritt der Wagenknecht-Gruppe längst nicht erledigt, sondern viel tiefgreifender sind als ohnehin gedacht?

Nein, daraus können wir lernen, dass ein Neustart manchmal organisatorisch etwas ruckelt. Aber in ihren langen Linien ist die Partei jetzt sehr klar: Wir stellen uns als sozialistische Gerechtigkeitspartei gegen die Kürzungspolitik der Ampel-Regierung wie die Hetze von rechts, wir sind die Partei für Klimagerechtigkeit und Frieden – und wir verbinden Milieus, in großen Städten wie auf dem Land, anstatt sie gegeneinander auszuspielen. Und wir machen linke Politik auf allen Ebenen: auf der Straße, in den Parlamenten und in der Regierung. Das gehört zusammen.

Beim Jahresauftakt der Linken am Wochenende werden die Europawahlen im Juni ein zentraler Punkt sein. Wie europäisch wird der Wahlkampf der deutschen Linkspartei?

Sehr europäisch. In dem Sinne, dass wir uns auf jene Themen konzentrieren, die den Menschen in Europa wie in Deutschland grenzübergreifend auf den Nägeln brennen. Wir werden das in enger Abstimmung mit unseren Partnerinnen und Partnern sowohl im Europäischen Parlament als auch in der Europäischen Linkspartei tun. Walter Baier, der Präsident der Europäischen Linkspartei, wird ja an dem Treffen teilnehmen.

Welche Themen sind das konkret?

Zum Beispiel Social Housing, also: Wie kann bezahlbarer Wohnraum entstehen oder bezahlbares Wohnen überhaupt möglich sein? Oder der Anstieg der Lebensmittelpreise, das Verbot von Lebensmittelspekulation und die Gewährleistung von Ernährungssouveränität und -sicherheit. Ein drittes Beispiel: Welche Lehren ziehen wir aus der Pandemie, wie organisieren wir in Europa eine Gesundheitspolitik, die dem Wohl der Menschen und nicht dem Profit einiger Weniger dient? Und natürlich die Notwendigkeit von Umverteilung und öffentlichen Zukunftsinvestitionen statt Kürzungsdiktat und endloser Aufrüstung.

Wird es gemeinsame, länderübergreifende Aktionen geben?

Entsprechende Aktionen sind angedacht. Klar ist, dass wir immer wieder auf die internationale Relevanz und Solidarität hinweisen werden, weil sich die politischen Fragestellungen, die in den Vordergrund drängen, nicht mehr nationalstaatlich lösen lassen: die wachsende Ungleichheit, Krieg und Frieden, Klimaschutz, Migration, der anhaltende Rechtsruck in Europa und vieles mehr.

Wo liegen die Ursachen für diesen Rechtstrend? Und was kann Die Linke ihm entgegensetzen?

Wir leben in einer Phase gewaltiger Umbrüche und damit existenzieller Unsicherheiten. Die Menschen fürchten um ihre Arbeitsplätze, um die Perspektiven für ihre Kinder und Enkel. In solcher Unsicherheit neigen Menschen zu autoritären, verkürzten Antworten, die Stabilität suggerieren. Mit solchen vermeintlich einfachen Antworten tritt die extreme Rechte an. Die Linke muss Angebote dagegensetzen, die Stabilität und Sicherheit nicht nur behaupten, sondern wirklich herstellen können. Wir müssen beispielsweise zeigen, wie Arbeitsplätze erhalten werden können, wie die industrielle Basis bewahrt und zugleich in die Zukunft entwickelt werden kann.

Das klingt nach eher komplizierten Antworten.

Wir brauchen natürlich eine klare, verständliche Sprache, um zu überzeugen. Es braucht eine Idee von Zukunft, in der die Menschen sich wiederfinden. Da hat Die Linke Hausaufgaben zu erledigen. Ich finde, unser Europawahlprogramm gibt viele gute Antworten. Ob bei sozialer Gerechtigkeit und Umverteilung, ob bei der Forderung nach Investitionen in die sozial-ökonomische Transformation oder bei einem Klimaschutz, der die Menschen nicht in den Ruin stürzt. Ein zweiter Punkt ist, dass wir auf gesellschaftspolitischer Ebene eine verschärfte Auseinandersetzung haben.

Das prominenteste Beispiel ist sicher die Frage der Migration, aber auch bei Ökologie, der Gleichberechtigung von Mann und Frau, der Rolle von Minderheiten in der Gesellschaft. Die Aufladungen dieser gesellschaftspolitischen Ebene durch die extreme Rechte – wie gerade bei den Sanktionen beim Bürgergeld – zeigt, dass ein massiver Kulturkampf von rechts geführt wird. Unterstützt wird das in weiten Teilen durch die Konservativen, die Liberalen und mittlerweile auch durch SPD und Grüne. Dagegen müssen wir die Ebene der Auseinandersetzung verschieben, weg von kulturellen Fragen, hin zu Klassenfragen von Macht und Reichtum.

Die AfD wird immer aggressiver und auch stärker, im Osten liegt sie weit vorn. Derzeit wird über ein AfD-Verbot diskutiert. Wie stehen Sie dazu?

Es ist eine Option, die man nicht so einfach vom Tisch nehmen kann. Es geht nicht darum, politische Konkurrenz auszuschalten, sondern darum, dass eine offen rechtsextreme bis faschistische Partei die Demokratie gefährdet. Andererseits müssen wir der AfD politisch den Boden entziehen. Mit einer anderen Politik der sozialen Gerechtigkeit und der Zukunftsinvestitionen, die verhindert, dass autoritäre Angebote auf Zustimmung stoßen. Das ist unser Job, und den nehmen wir an.

Welches Ergebnis muss Die Linke bei der Europawahl erreichen, damit es als Erfolg gelten kann? 2019 waren es 5,5 Prozent, das galt damals als Einbruch.

Wir wollen so stark wie möglich werden. Nicht nur bei den Europawahlen, sondern auch in Thüringen, wo wir Bodo Ramelow als Ministerpräsident verteidigen wollen, in Sachsen und Brandenburg sowie bei den Kommunalwahlen. Wir sind durch eine schwierige Zeit gegangen, die dazu beigetragen hat, dass wir im Moment nicht so gut dastehen. Das Wahljahr 2024 ist für uns eine Chance, uns aus diesem Tal herauszuarbeiten.

Warum kann die Linkspartei nicht von der Ablehnung der Ampel-Politik durch große Teile der Bevölkerung profitieren?

Wir wurden im letzten Jahr vor allem mit internen Konflikten wahrgenommen. Und eine zerstrittene Partei wird nicht gewählt. Nun können wir aber die Grabenkämpfe hinter uns lassen. Es gab eine Abspaltung von Wenigen, was uns die Möglichkeit gibt, wieder erkennbarer die linke Opposition zum politischen Wahnsinn der Ampel zu sein. Wir müssen aber auch selbstkritisch sagen, dass es uns zu wenig gelungen ist, aktuelle programmatische Fragen zu verhandeln.

Wo sind programmatische Leerstellen?

In unserem gültigen Parteiprogramm konnte die Digitalisierung noch keine große Rolle spielen, weil sie damals noch nicht so relevant war. Dabei geht es darum, dass ganz neue Arbeitsplätze entstehen, dass Firmen auf den Markt drängen, die sich wie Monopolisten alles aneignen, also eine ursprüngliche Akkumulation von Kapital stattfindet. Oder die neue Blockkonfrontation zwischen China und den USA, die die internationalen Beziehungen vor ganz neue Herausforderungen stellt.

Sie haben Sahra Wagenknechts Abspaltung erwähnt – gibt an diesem Konflikt etwas, was Sie mit dem Wissen von heute anders machen würden? Hätte die Linke-Führung stärker das Gespräch mit Wagenknecht suchen sollen, um die Trennung zu verhindern, wie manche meinen?

Wir haben immer wieder, vielleicht etwas zu lange, das Gespräch gesucht, aber die Überlegungen für ein eigenes Projekt gab es offenbar schon lange, bevor ich Vorsitzender wurde. Wenn Austausch und Verständigung nicht gewollt sind, dann sind irgendwann getrennte Wege das Beste.

Was sagen Sie zur Erklärung von Sahra Wagenknecht, den Begriff links nicht mehr zu verwenden, weil viele Menschen damit nichts mehr anfangen könnten oder das mit Gendern und Lifestyle verbinden?

Ich weiß nicht, warum ich mir von jemandem erklären lassen sollte, was links ist und was nicht, der sich selbst nicht mehr so versteht – und jahrelang prominent daran gearbeitet hat, die Legende in die Welt zu setzen, Die Linke würde sich nur noch für Lifestylethemen interessieren. Wenn ich mir ansehe, dass einer der BSW-Spitzenkandidaten für die Europawahl aktuell Hartz IV befürwortet und bei den Privatisierungen der Treuhandanstalt im Osten dabei war, dann frage ich mich, was das mit sozialer Politik zu tun haben soll.

Linke Politik muss die Alltagssorgen der Menschen in den Blick nehmen. Das machen wir zum Beispiel bei den Bauernprotesten, beim Kampf um eine anständige Kindergrundsicherung, damit Kinder in diesem Land nicht in Armut leben müssen. Das sind die wichtigen Dinge. Sich darüber zu mokieren, wie andere Leute reden, ist eine Ablenkung von wichtigeren Fragen. Das ist doch eine wohlfeile, absurde Debatte.

Nach dem Austritt von Wagenknecht war von zahlreichen Eintritten in die Linkspartei die Rede. Wie viele Ab- und Zugänge gibt es seit Oktober 2023?

Wir haben in diesem Zeitraum mehr als 3000 Eintritte und deutlich weniger Austritte gehabt, das Saldo ist klar positiv.

Der Linke-Abgeordnete Jan Korte hat einen Kasten Bier verloren, weil er gewettet hat, dass Sahra Wagenknecht sich nicht traut, ihre Partei zu gründen. Würden Sie einen Kasten Bier darauf verwetten, dass Die Linke bei mindestens zwei der vier großen Wahlen dieses Jahres vor dem BSW landet?

Für jede Wahl, bei der das nicht so ist, steht bei euch eine Kiste vor der Tür.

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