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Facts und Fakes
Wie aus Opfern Täter werden – warum die Konfusion im globalen Cyberspace Terroristen perfide in die Hände spielt
Als »Urszene«, pathetisch gar als »Mutter aller Ereignisse« hatte der französische Kulturkritiker Jean Baudrillard einmal die Anschläge von 09/11 bezeichnet. Während die übliche Dauerkrisenberichterstattung eher zu einem Abstand zwischen dem echten Ereignis und den Zuschauerinnen und Zuschauern beitrage, habe der Einsturz der Twin-Towers einen Realitätsschock hervorgerufen. Aber haben wir die Wirklichkeit im Moment der Live-Übertragung auf sämtlichen Kanälen tatsächlich klarer erkannt? Nur scheinbar, stellt der Autor im weiteren Verlauf seines Essays »Der Geist des Terrorismus« (2002) fest: »Nicht die Gewalt des Realen war zuerst da, gefolgt vom Gruseleffekt des Bildes, sondern das Bild war zuerst da, gefolgt vom Gruseleffekt des Realen. Gleichsam eine zusätzliche Fiktion, eine Fiktion, die die Fiktion übertrifft.«
Ähnlich argumentierte auch der große Philosoph der Geschwindigkeit, Paul Virilio, in seinem Buch »Ground Zero« (2001), wenn er festhält: »Das Zu-Schnell und Zu-Viel der Bilder liegen jenseits der Kontrolle des Subjekts – es entsteht der Eindruck, dass die audiovisuellen Medien das Subjekt und dessen Wahrnehmung beherrschen.« Obwohl die Kamera vermeintlich Objektives dokumentiert, entrückt sie das Ereignis beinah schon ins Irreale.
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Die Folge: Die Angst nimmt zu, Panik macht sich breit. Schon an den damaligen Anschlägen auf das Herz der USA konnte man ablesen, dass die Kriege des 21. Jahrhunderts gänzlich andere als alle zuvor sein würden. Insbesondere jene, die nicht mehr zwischen Staaten, sondern gegen Terroristen ausgetragen werden. Statt durch bloße Waffengewalt wird der Erfolg, wie die sich anschließenden Dekaden offenbaren, zunehmend im Triumph über Bilder bemessen. Wer gewinnt die Deutungshoheit über diese? Wem gelingt es, den Feind maximal zu diskreditieren und auf diese Weise Stimmungen in der Gesellschaft zu lenken?
Mehr denn je weiß auch die Hamas die Macht der Kamera auszuspielen, ja, sich den von Baudrillard und Virilio beschriebenen Effekt der Derealisierung zunutze zu machen. Man denke etwa an die Bombardierung eines Krankenhauses, die eine mehrtägige Diskussion und Fallanalyse bezüglich der Verursacher nach sich zog – Zeit, in der Gerüchte wachsen und sich viral verbreiten konnten. Rasch wird dabei aus dem Opfer, dem angegriffenen Staat Israel, ein Täter. Und allzu rasch kursiert die Rede vom Genozid an den Palästinensern, samt der entsprechenden Demonstrationen auf allen Straßen der Welt. Da es gerade in Kriegsgebieten heutzutage kaum eine Instanz der Wahrheitsfindung gibt, der von allen Seiten Vertrauen entgegengebracht wird, profitieren zumeist die Manipulatoren von informativen Leerstellen.
Dass dies nicht immer so war, hat Charlotte Klonk in ihrer detailreichen Studie »Terror. Wenn Bilder zu Waffen werden« (2017) auf Basis eines historischen Rückblicks dargelegt. Beispielgebend sei hier auf die mediale Verarbeitung der Ermordung des russischen Zaren Alexander II. am 13. März 1881 hingewiesen. Nachdem die Zeitungen Skizzen der Täter anfertigt hatten, wurden wenig später Bilder ihrer Exekution publik gemacht. Ähnlich verfuhren auch die Anarchisten in Paris. Sie nahmen bei ihren Anschlägen neben der politischen Elite ebenfalls die Zivilbevölkerung ins Visier, um schlussendlich mit Angst und Schrecken die allgemeine Wahrnehmung zu beeinflussen. Aufnahmen getöteter Menschen nach einem Bombenanschlag auf das Café »Terminus« am 12. Februar 1894 vermittelten klar die Botschaft: Es kann jederzeit jeden und jede treffen.
Noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts lag die Hoheit über die Berichterstattung bei wenigen Instanzen. Quellen für Informationen oder Desinformationen waren daher rasch auffindbar. Vor Verklärungen sollte man sich dennoch hüten. Denn gerade die Einseitigkeit der Nachrichten- und Bildvermittlung, wie sie noch im Reich des Zaren vorherrschte, stellt für offen-pluralistische Gesellschaften keinen erstrebenswerten Zustand dar.
Im Umkehrschluss muss man sich allerdings auch fragen: Dient die multimediale Konfusion unzähliger Sender und Empfänger mehr einem demokratischen Gemeinwesen? Auf jeden Fall sind hier Zweifel angebracht. Insbesondere weil ein redaktioneller Filter, sprich: eine neutrale Prüfung des Materials, fehlt. Haben wir es daher mit einer Vielzahl vermeintlich bei Explosionen und Tötungen aufgenommener Videos zu tun, die binnen weniger Sekunden in sämtlichen sozialen Netzwerken kursieren, lässt sich kaum eine Aussage über deren Authentizität treffen. Noch bevor die Dokumente verifiziert oder falsifiziert, geschweige dem irgendeinem Produzenten überhaupt zugeordnet werden können, ist die Inszenierung und parteiische Zuordnung von Daten in vollem Gange.
Wir haben es also mit einem Krieg der Bilder zu tun, in dem sich Facts und Fakes kaum noch auseinanderhalten lassen. Baudrillard spricht hier auch von der »Liquidierung aller Referentiale«. Meint: Hinter Sätzen und Wörtern verbergen sich keine festen Bedeutungen mehr. Alles wird flexibel, austauschbar. Alles droht im digitalen Zeitalter zur Simulation zu verkommen. Als perfide erweist sich aus Sicht des Denkers, dass dabei die Realität allzu oft durch eine künstliche und kaum als Trug entlarvbare Realität ersetzt wird. Selbst scheinbar unmittelbar in Kriegsgeschehen erstellte Handyvideos können allein am Computer erzeugt worden sein – ein Umstand, der in doppelter Weise den Nährboden für Terroristen bildet.
Einerseits können sie dadurch gezielte Hetzkampagnen gegen ihre Gegner lostreten, andererseits sind sie dazu imstande, die Diskussion um unklare Autorschaften wiederum für sich in einem völlig entgegengesetzten Sinne zu nutzen. Dann nämlich, wenn auf der Klaviatur der großen Weltverschwörungen gespielt wird. Wo jedwede Zuordnung von Daten schwindet, kompromittiert man die Medien rasch als Lügen-Presse. Von Staatslenkung ist dann die Rede. Währenddessen gerieren sich die Terroristen, allen voran die islamistisch gesinnten, gern als idealistische Guerilla-Kämpfer. Das beliebte Narrativ: David gegen Goliath, wobei Letzterer mit übler Grausamkeit operiert.
Indem sich die Hamas unter die Menschen im Gazastreifen mischt, weiß sie die Kollateralschäden durch die israelische Gegenwehr exzellent für ihre Inszenierung des Konflikts einzusetzen. Opfer in der Zivilbevölkerung sind die beste Munition für Bilder als Waffen. Letztere sollen Israel als unmenschlichen, verbrecherischen Staat demaskieren. Leider muss man diese Taktik als die wohl effizienteste Kriegsführung überhaupt bezeichnen. Sie erfordert kaum finanzielle Ressourcen. Man wiegelt Kritiker und bekennenden Feinde des jüdischen Staates allein mittels blutiger Videos auf.
Eine Lösung für dieses folgenreiche Theater zeichnet sich nicht ab. Solange die Freiheit des Netzes über alle Verantwortungsstandards der Berichterstattung erhaben ist, kann man jedem Einzelnen nur zu einem gesunden Skeptizismus raten. Vor allem gegenüber Wahrheitsansprüchen, die für sich eine absolute Gültigkeit reklamieren.
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