Räumung in Hannover: Die letzten Tage von Tümpeltown

Die Leinemasch in Hannover wird für einen Straßenausbau gerodet, eine Waldbesetzung geräumt. Über 1000 Menschen protestieren gegen die Zerstörung

  • Louisa Theresa Braun
  • Lesedauer: 10 Min.
Tümpeltown am Sonntagabend: Aktivist*innen positionieren sich auf Duo- und Tripods, um der Polizei die Räumung zu erschweren.
Tümpeltown am Sonntagabend: Aktivist*innen positionieren sich auf Duo- und Tripods, um der Polizei die Räumung zu erschweren.

Am frühen Montagmorgen ist es still um »Tümpeltown«. Es ist stockdunkel, eiskalt, zugig und schneit. Nur die Lichter einiger Polizeiwagen durchbrechen das Schwarz, und ein großes Flutlicht, das direkt auf die Waldbesetzung gerichtet ist und manchen Aktivist*innen den Schlaf raubt. Vor einer Weile sei mal eines sabotiert worden, berichtet ein*e Waldbesetzer*in, aber längst durch ein neues ersetzt worden. Es scheint die Ruhe vor dem Sturm zu sein. Einen Tag später um dieselbe Zeit reißen Polizist*innen die Barrikaden aus Bauzäunen nieder, von denen »Tümpeltown« – neben einem Mini-Burgraben im Matsch – umfriedet wurde.

Noch am Sonntag herrscht in der Leinemasch, einem Wald in Hannover, reger Betrieb. Das Bündnis »Leinemasch bleibt« hat zum letzten Waldspaziergang durch das Gebiet eingeladen, das in dieser Woche gerodet wird. 1200 Menschen sind gekommen, aus allen Altersklassen, warm eingepackt in verschiedenfarbige Jacken und Mützen, mit diversen Transparenten und Plakaten, teils vermummt und voller Schlamm. Immer wieder quetschen sich Spaziergänger*innen, Fahrradfahrende und Hunde durch die Menge – der Ort ist ein beliebtes Naherholungsgebiet.

Unter den Demoteilnehmer*innen ist der 18-jährige Gregor. »Ich war in den letzten drei Sommern fast jeden Tag zum Schwimmen hier«, erzählt er. Die Leinemasch wird von zahlreichen Seen, Teichen sowie dem Fluss Leine durchzogen. Auf Gregors Rücken klebt ein Zettel, der wie eine Todesanzeige gestaltet ist, mit den Worten: »Wir nehmen Abschied von unserem geliebten Landschaftsschutzgebiet Leinemasch.«

Seine Familie sei vor 16 Jahren wegen dieses Landschaftsschutzgebietes hierher gezogen. Nun will die niedersächsische Landesregierung 13 Hektar davon abholzen, um eine Bundesstraße auszubauen, den mitten durch die Leinemasch führenden Südschnellweg. »Wo ist da die Busspur, wo ist der Fahrradweg, wo ist der Schallschutz?«, fragt sich Gregor. Klimafreundliche Verkehrsmittel wurden bei den Planungen überhaupt nicht berücksichtigt. Die Straße soll von rund 15 Metern auf 26 Meter verbreitert werden – für einen Standstreifen, aus Gründen der Verkehrssicherheit.

Während des Waldspaziergangs am Sonntag ziehen Aktivist*innen eine rote Linie gegen die Rodung.
Während des Waldspaziergangs am Sonntag ziehen Aktivist*innen eine rote Linie gegen die Rodung.

Oder wie Swantje Hahlbohm von »Leinemasch bleibt« es in ihrer Rede während des Spaziergangs sarkastisch ausdrückt: »Damit hier endlich 100 gefahren werden kann.« Der Demozug ist da gerade an einer Brücke des Südschnellwegs angekommen, für deren Sanierung im vergangenen Jahr bereits eine Teilrodung stattgefunden hat. Nun versperren vier Polizeiwagen und rund 20 Beamt*innen den Weg, näher heran kommt man nicht an die Schnellstraße. Einige Vermummte rücken den Polizist*innen auf die Pelle, so dicht es geht, und halten ihnen ihr Transparent mit der Aufschrift »Dasselbe in Grün« unter die Nase. Einige stimmen Sprechchöre an wie »Lützi lebt und Leinemasch bleibt!«.

Der Ausbau der Straße auf einer Länge von knapp vier Kilometern wird nicht nur rund 580 Millionen Euro kosten, sondern auch bis zu zehn Jahre dauern. »Dann haben wir hier 20 000 Quadratmeter mehr Asphalt und 13 Hektar weniger Wald. Aber in zehn Jahren muss die Verkehrswende passiert sein!«, ruft Hahlbohm den buhenden Teilnehmer*innen zu. Das heißt, im Optimalfall fahren dann viel weniger Menschen Auto. Zum Umstieg auf klimafreundliche Verkehrsmittel motiviert die Politik aber kaum, wenn das Autofahren durch immer breitere Straßen so angenehm wie möglich gestaltet wird.

Gregor erinnert das Vorgehen an die Abbaggerung des nordrhein-westfälischen Ortes Lützerath für die darunter liegende Braunkohle. Notwendig sei es nicht, »es ist politisch«, betont er. Den Vergleich mit Lützerath, dessen Besetzung durch Klimaaktivist*innen vor genau einem Jahr gewaltsam geräumt wurde, hört man in der Leinemasch oft. Sogar der Beginn von »Leinemasch bleibt« habe mit Lützerath zu tun, berichtet Julia Förster von dem Bündnis. Eben dort hätten sich nämlich die Initiator*innen kennegelernt, bevor sie im Sommer 2021 die ersten Waldspaziergänge in Hannover organisierten.

Vor einem Jahr seien sie mit fünf Bussen zur Räumung von Lützerath gefahren – nun sind Aktivist*innen der Mahnwache Lützerath – genau wie von vielen anderen Klimagerechtigkeitsgruppen wie Letzte Generation, Fridays for Future oder Ende Gelände – auch zur Unterstützung in die Leinemasch gekommen. Hajo vom Mahnwachenbündnis sieht aber auch deutliche Unterschiede zwischen beiden Protestorten: Lützerath sei viel größer gewesen, Aktivist*innen hätten dort über Jahre hinweg gelebt. »Bei Tümpeltown gibt es Parallelen«, sagt er. Natürlich auch, was den Kampf gegen die Zerstörung betrifft, gegen Klima- und Biodiversitätskrise.

»Wir werden einen Teil der Leinemasch verlieren«, sagt Förster auf der Demo. Es sei aber auch einiges gelungen: »Wir haben den Scheinwerfer auf das Versagen der Verkehrspolitik gerichtet. Diese Politik wird eine krasse Narbe hinterlassen.« Das werde noch rechtliche Konsequenzen haben, kündigt sie an. Auch wenn das den gefällten Bäumen und den vertriebenen Tieren dann nicht mehr hilft.

Über Traversen können die Waldbesetzer*innen von Tümpeltown sich hoch über dem Boden fortbewegen.
Über Traversen können die Waldbesetzer*innen von Tümpeltown sich hoch über dem Boden fortbewegen.

Unter anderem leben zwei streng geschützte Biber im Rodungsgebiet, die umgesiedelt werden sollen. »Darein haben wir kein großes Vertrauen«, sagt Thomas Beerus von »Leinemasch bleibt« während der Abschlusskundgebung an der Dauermahnwache, die die Initiative vor einer Woche eingerichtet hat und die bis zum Ende der Rodungsarbeiten bleiben soll. Schließlich seien in den vergangenen Monaten bereits Fledermäuse verätzt und Amphibien ausgetrocknet worden. »Aber bei den Zelten heißt es dann, die seien mit dem Landschaftsschutz nicht vereinbar«, so Beerus über die kuriose Argumentation der Behörden. An der Mahnwache campen über 50 Aktivist*innen – um den Wald zu schützen.

Beerus macht auch auf FKK aufmerksam: Neben dem Barrio Tümpeltown, das inzwischen über ein Jahr alt ist, gibt es seit Dienstag noch eine kleine Baumbesetzung im FKK-Bereich des Siebenmeterteichs. Sie besteht nur aus zwei Plattformen, über denen Planen eine Art Dach bilden, und wird von den drei Besetzer*innen FKK genannt, was für »Verkehrswende kurz vor Kollaps« steht – »ein kreativer Umgang mit der Rechtschreibung ist nicht unser größtes Problem«, meint Beerus. Viel schlimmer sei, dass die Polizei jeglichen Verkehr zwischen FKK und dem Erdboden verhindere und die drei Besetzer*innen seit zwei Tagen nichts mehr zu essen und zu trinken hätten.

Das schien für einige Aktivist*innen ein Stichwort zu sein: Auf dem Rückweg zur Dauermahnwache biegen rund 50 Personen zu FKK ab und brechen durch die Polizeikette. Nach einigen Minuten Gerangel gelingt es ihnen, eine Tüte mit Essen hinaufzuwerfen. Es gehe ihnen gut, rufen zwei Aktivist*innen, die sich Niko und Annkatrin Arens Bentke nennen, einen Tag später einigen Journalist*innen von oben zu. Die Kälte sei aushaltbar, sie hätten Schlafsäcke und Stroh. »Wir bleiben, bis es nicht mehr geht.«

Tümpeltown ist deutlich besser ausgestattet: Zwischen dem namensgebenden Tümpel und einem Sportplatz befindet sich ein Dutzend Baumhäuser unterschiedlicher Größe in verschiedenen Höhen, die durch zahlreiche Traversen verbunden sind. In einem gibt es eine Küche, auf dem matschigen Erdboden zwei Feuerstellen. Da der mit Transparenten, Straßenschildern und Tannenzweigen geschmückte Haupteingang aufgrund der bevorstehenden Räumung verbarrikadiert bleibt, ist der Zugang nur noch über einen mit Paletten, Bauzäunen und Baumstämmen so unwegsam wie möglich gestalteten Pfad zugänglich.

Zu einem verabredeten Interview am Sonntag muss sich Tümpeltown-Sprecher*in Quadrat erst einmal aus dem Baumhaus »Madagaskar« abseilen. Quadrat hat einen schwarzen Schal bis über die Nase, eine Mütze tief in die Stirn gezogen. Da diese Form des Protests mit extremen Repressionen verbunden ist, wollen die Besetzer*innen nicht erkannt werden und benutzen Pseudonyme. Auf ihnen laste enormer »emotionaler Druck«, erzählt Quadrat, die vergangenen Tage seien anstrengend gewesen. »Die Wut ist sehr präsent«, darüber, dass dieser Ort zerstört und so viel Protest niedergeschlagen wird.

Niko und Annkatrin Arens Bentke, die Baumbesetzer*innen von FKK, harren seit mehreren Tagen auf der Plattform aus.
Niko und Annkatrin Arens Bentke, die Baumbesetzer*innen von FKK, harren seit mehreren Tagen auf der Plattform aus.

Mit Tümpeltown sei ein queerer Freiraum geschaffen worden, ein Zuhause und ein Ort der Erholung für Menschen, die in der Gesellschaft von Queer- oder Transfeindlichkeit bedroht sind. »Wir fragen uns nach unseren Pronomen«, nennt Quadrat ein Beispiel. Quadrat selbst benutzt keine Pronomen, will also nicht als Mann oder Frau identifiziert werden. Viele Menschen seien dadurch politisiert worden. »Die Zerstörung dieses Ortes stellt in Frage, wie und wo wir weitermachen.« Sicher sei nur, dass man weiter für soziale und Klimagerechtigkeit sowie für eine befreite Gesellschaft kämpfe. Insofern »gibt es keinen Protest, der nicht in irgendeiner Form gewinnt«, meint Quadrat. Dass die Besetzung bereits über ein Jahr bestehe, sei allein schon ein Erfolg.

Plötzlich wird das Interview von Lärm auf dem Sportplatz unterbrochen: Die Polizei nimmt eine Person fest – das wird in den kommenden beiden Tagen noch öfter passieren. »Bei vielen liegen die Nerven blank«, sagt Monika Krimmer. Sie ist als Ärztin und Therapteutin bei den Psychologists for Future aktiv und betreut die Baumbesetzer*innen ehrenamtlich psychologisch. Einige Aktivist*innen hätten mit Hoffnungslosigkeit zu kämpfen, manche keine Wohnung mehr – sobald sie geräumt sind, wissen sie nicht, wohin. Aber sie sehe, »dass es den Menschen Mut macht, gemeinsam zu handeln«, sagt Krimmer.

Am Montag beginnt die Abholzung der Leinemasch im Westen des Gebiets, nahe des Landwehrkreisels. Der riesige Greifarm einer Rodungsmaschine zerpflückt die Bäume wie Streichhölzer. Einen Tag später ist Tümpeltown dran: Nach und nach holt die Polizei Besetzer*innen aus den Bäumen. Dabei seien auch Menschen gefährdet und es sei Gewalt angewendet worden, berichten die Aktivist*innen in einem Social-Media-Kanal. Auch die ersten Baumhäuser und andere Strukturen werden mit Baggern und Hebebühnen zerstört. Die Räumung dauert bis Mittwochnachmittag.

Die Berichterstattung vor Ort wurde von der Polizei erschwert und zum Teil auch behindert. Seit Montagfrüh galt das Gebiet rund um den Schnellweg als Sicherheitsbereich, in dem sich nur noch Beschäftigte von Polizei und Rodungsfirmen frei bewegen durften – das heißt, auch keine Journalist*innen. Tümpeltown konnte lediglich aus 70 Metern Entfernung gefilmt und fotografiert werden oder am Montag vom Südschnellweg aus, im Rahmen einer Tour in Polizeibegleitung. Gespräche mit Aktivist*innen waren dabei nicht möglich. Begründet wurde dies mit den Gefahren, die von Räumung und Rodung ausgehen.

Die Deutsche Journalistinnen- und Journalistenunion in Verdi Niedersachsen-Bremen kritisiert die massive Einschränkung der Pressefreiheit. »Sicherheitsbedenken sind kein Blanko-Scheck für die Polizei. Vielmehr muss es einen Ausgleich zwischen Sicherheit und Öffentlichkeit geben, wie es beispielsweise durch eine Räumung in einzelnen Sektoren möglich wäre«, fordert Landesmediensekretär Peter Dinkloh.

Im Westen Hannovers beginnt am Montag die Rodung der Leinemasch.
Im Westen Hannovers beginnt am Montag die Rodung der Leinemasch.

Am Dienstag gab das Verwaltungsgericht Hannover dann dem Eilantrag eines Radiojournalisten gegen die Beschränkungen statt. Mit diesen sei die grundgesetzlich geschützte Pressefreiheit verletzt worden. Angesichts des öffentlichen Interesses an Besetzung und Räumung des Geländes komme einer ungehinderten Berichterstattung »auch wegen der damit verbundenen Kontrollfunktion der Medien gegenüber staatlichem Handeln ein besonders hoher Stellenwert zu«, erklärte das Gericht zur Begründung. Die Sicherheitsbedenken der Polizei ließ das Gericht angesichts der Größe des Gebiets und »punktueller« Gefahrenquellen nicht gelten. Daraufhin hob die Polizei die Beschränkungen nach eigenen Angaben auf. Laut »Leinemasch bleibt« ist der uneingeschränkte Zugang zum Bereich um Tümpeltown jedoch nur zeitweise möglich gewesen.

Eine Person, die am Montag mit Anderen den Weg vor der Südschnellweg-Brücke blockierte, wird von der Polizei weggetragen.
Eine Person, die am Montag mit Anderen den Weg vor der Südschnellweg-Brücke blockierte, wird von der Polizei weggetragen.
Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.