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»Multiple Krise«: Ein zeitgemäßes Potpourri
Die aktuelle Ausgabe von »Z. Zeitschrift für marxistische Erneuerung« befasst sich mit dem Thema »Multiple Krise«
Der Begriff der Krise ist derzeit in aller Munde. Dabei bleibt es häufig nicht bei einer einzigen: Selbst die Bundesregierung – zumindest Vizekanzler Robert Habeck – spricht von einer »multiplen Krise«, die Deutsche Industrie- und Handelskammer geht ebenfalls von der Existenz einer »multiplen Krise« aus und die traditionsreiche Zeitschrift »Wirtschaftsdienst« titelt mit »multipler Krisensituation«. Auch Begriffe wie Vielfachkrise oder Polykrise werden immer wieder gebraucht. Viele Analyst*innen aus unterschiedlichsten politischen Lagern sind sich einig: Die Lage ist – selbst wenn von der aktuellen, durch die Ampel-Regierung verursachten Katastrophe abgesehen wird – nicht »normal«.
Deutschland, Europa und die Welt stecken also in einer multiplen Krise. Diesem Thema widmet sich auch die in Frankfurt herausgegebenen »Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung« in der jüngsten Dezemberausgabe. Darin sind wesentliche Beiträge der Marxistischen Studienwoche zum Thema »Multiple Krise?« vom August des vorigen Jahres sowie ein Tagungsbericht abgedruckt. Einige der Konferenzbeiträge sind außerdem als Video-Mitschnitt auf der Webseite des mitveranstaltenden Münchner Instituts für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung zu finden.
Viele einzelne oder eine große Krise?
Entstanden sei der Begriff, so ist in der aktuellen Ausgabe der »Z.« zu lesen, im Zusammenhang mit den linken Deutungsversuchen der Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2007 und deren Verquickung mit der Krise der fossilistisch-kapitalistischen Produktions- und Lebensweise. Im Eröffnungsbeitrag von Dominik Feldmann wird diese Krise nicht nur als zufälliges Zusammentreffen verschiedener Krisen – darunter die Klima- und Umweltkrise, Krise der Reproduktion, Krise der »westlichen« Demokratien, der Verteilungsverhältnisse, einer Weltordnungskrise und anderer Krisen – verstanden, sondern eher als eine einzige »große«, »systemische« Krise. Sie habe womöglich das Zeug dazu, die aktuelle globale Hegemoniekonstellation ins Wanken zu bringen. Ob das nur die neoliberale Ausprägung des Kapitalismus betrifft oder ob grundlegendere Veränderungen angestoßen würden, sei freilich noch unklar.
Der Politikwissenschaftler Frank Deppe meint in seinem Artikel, die existierenden Widersprüche würden nach »sozialistischen Lösungen« geradezu »schreien«, wobei er die Anführungszeichen selbst setzt. Angesichts der Schwäche der Linken komme es vor dem Hintergrund der Krisenerfahrungen der Lohnabhängigen und der weit verbreiteten Furcht vor sozialem Abstieg gegenwärtig jedoch eher zu einem Aufschwung rechtspopulistischer Kräfte. Diese könnten das Feld für faschistische und gewaltbereite Reaktionen auf die Verschärfung der Krise bereiten. Es sei nicht ausgeschlossen, dass sich die Tendenzen zu Chaos, Krieg und Gewalt weiter verstärkten. Wie berechtigt diese Einschätzung ist, zeigen die Wahlsiege des Anarcho-Kapitalisten Javier Milei in Argentinien, des Rechtsextremen Geert Wilders in den Niederlanden, das Abschneiden der AfD in den jüngsten Wahlumfragen in Deutschland oder der absehbare Wahlsieg Putins in Russland: alles Ereignisse, die in den »Z.«-Beiträgen noch gar nicht berücksichtigt werden konnten.
Verheerende Regierungspolitik
Die Beiträge zum Thema »multiple Krise« umfassen nicht nur Versuche zur Bestimmung von deren Wesen, ihrer Konsequenzen und politischen Profiteur*innen, sondern auch die Frage der Herkunft von Krisen im Kapitalismus generell und ihrer »Bearbeitung« durch die herrschende Klasse und ihrer Organisationen. Judith Dellheim macht hier etwa den Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) als »Katalysator der multiplen Krise« aus. Seine die Ausbeutung verschärfende Politik führe »nicht zuletzt zum Anwachsen liquider Geldmittel, mit denen auf den aufgeblähten internationalen Finanzmärkten spekuliert wird, was Finanzkrisen befördert. Diese wiederum spitzen Wirtschafts-, Umwelt- und Reproduktionskrisen zu, generieren neue Krisen und verstellen die Bedingungen für die nachhaltige Bekämpfung von Krisenfolgen und Krisenursachen.«
Besonders interessant ist auch der Beitrag von Michael Schwan, der die Krisenbearbeitung durch die heutigen Regierungen der USA und Deutschlands vergleicht. Es müsse betont werden, dass es sich in beiden Ländern »um die historisch wohl umfangreichsten Interventionen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges« handele. Dies sei nicht nur eine Reaktion auf die Schwere und Vielgestaltigkeit der Krise, sondern in besonderer Weise auch einer »geostrategisch und sicherheitspolitisch« bedingten Überformung der gegenwärtigen Akkumulationsweise geschuldet. Zu dieser Einschätzung passt auch der vom Autor dieses Artikels verfasste Beitrag »Mit Subventionen den Kapitalismus retten?«.
Außerhalb des Schwerpunktthemas finden sich in der aktuellen »Z.« Beiträge zur Marx-Engels-Forschung, zur Inflation und den aktuellen Verteilungskämpfen sowie ein Rückblick auf das Jahr 1923 und den damaligen Versuch kommunistischer Kräfte, einen »deutschen Oktober« einzuleiten. Berichte über linksorientierte Zeitschriften, Debatten und Konferenzen sowie ein gutes Dutzend Buchbesprechungen komplettieren die Ausgabe.
Fehlende Geschichtsperspektive
Obwohl die historische Einordnung der aktuellen multiplen Krise als »organische« oder auch »große« Krise des Kapitalismus erfolgt, wäre es sicherlich in diesem thematischen Heft der »Z.« sinnvoll gewesen, auf frühere »große« Krisen und deren jeweilige Folgen und Bewältigungsstrategien einzugehen. Die erste derartige Krise, die Große Depression der Jahre 1873 bis 1896, war mit der Herausbildung des monopolistischen Kapitalismus und der Herrschaft des Finanzkapitals verbunden. Der Erste Weltkrieg, die Entstehung der Systemkonkurrenz zwischen Sozialismus und Kapitalismus und die Weltwirtschaftskrise von 1929/1933 bereiteten den Boden für die Verquickung der großen, zunehmend monopolisierten Konzerne mit dem bürgerlichen Staat. Die ökonomische Krise zu Beginn der 70er Jahre und der fortschreitende Prozess der Globalisierung leiteten den Übergang zur neoliberalen Variante kapitalistischer Wirtschaftspolitik ein.
Alle diese Krisen stellten Zäsuren innerhalb der Entwicklung des Kapitalismus dar, die zwar systemische Schwächen und Umbruchs-Konstellationen signalisierten, schließlich aber immer wieder zu einer »relativen Stabilisierung« – ein Begriff aus den 1920er Jahren – führten. Der ebenfalls damals im Marxismus-Leninismus geprägte Begriff der »allgemeinen Krise« als der Beschreibung einer Situation, in der sich tatsächlich alle Elemente des kapitalistischen Systems in der Krise befinden und ein Übergang zum Sozialismus gerade deshalb möglich und teilweise sogar Wirklichkeit sei, findet in diesem »Z.«-Heft – ob zu Recht oder zu Unrecht, sei hier dahingestellt – keine Erörterung.
Befinden wir uns im Interregnum?
Hinzugefügt sei, dass auf die gegenwärtige Krise durchaus zutrifft, was Antonio Gramsci in seinem Gefängnisheft von 1930 als »Interregnum« bezeichnet: »Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr ›führend‹, sondern einzig ›herrschend‹ ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, dass die großen Massen sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, was sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu unterschiedlichsten Krisenerscheinungen.«
Abschließend sei noch einmal auf Frank Deppes Beitrag zurückgekommen: Er konstatiert nämlich nicht nur einen Rechtsruck, sondern auch Anzeichen einer linken Gegenbewegung. Weltweit sei eine Welle theoretischer und praktischer Kritik der gesellschaftlichen Zustände und deren neoliberaler Bearbeitung entstanden. Nach langen Jahren des Niedergangs erlebten die Gewerkschaften einen neuen Aufschwung, eine Verstärkung des Streikgeschehens – worüber auch der im Heft enthaltene »Streikmonitor« informiert – sei ebenso zu beobachten wie diverse Ein-Punkt-Bewegungen wie zum Beispiel die Klima-, Enteignungs- oder Friedensbewegung. Insofern hätte Deppes Beitrag auch mit dem Gramsci-Wort vom »Pessimismus des Verstandes – Optimismus des Willens« überschrieben werden können.
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