- Kultur
- »Einfach das Ende der Welt«
Warum will die Familie keine Regie?
Das Deutsche Theater Berlin zeigt Christopher Rüpings Inszenierung »Einfach das Ende der Welt« ... auch da gibt’s kein Vergessen, kein Verzeihen
Vierte Wand? Vergiss es! Vor einer bis ins kleinste Detail um Neunziger-Jahre-Mittelstandsnormalität bemühten Inneneinrichtung (Bühne: Jonathan Mertz) steht ein junger Mann (Benjamin Lille), der in keiner westlichen Großstadt als un-urban gebrandmarkt würde. Dem Publikum vertraut er an, dass er 34 ist, seine Familie seit 12 Jahren nicht mehr besucht hat – und bald stirbt, eben etwas früher geht. Wie ein bedürftiger Motivationscoach verlangt Benjamin vom Publikum, das er blindlings zu Mitwissern macht, laut zu wiederholen, was er uns vorsagt: Wir sollen ihm also zu Lebzeiten nachrufen. Dann geht es um uns: Benjamin fragt, ob wir in seiner Lage noch mal auf große Reise wollten? Wer will lieber alleine sterben? Wer im Kreis der Familie? Hände hoch!
Benjamin wendet sich schließlich von uns ab und führt den Video-Recorder in seinem Elternhaus spazieren, wo noch Formel 1 läuft, Window Color an den Scheiben klebt, die »TV Spielfilm« gelesen wird, sich VHS-Kassetten stapeln. Dann, nach keiner halben Stunde, ist schon Umbau. Als wir zurückkehren, kehrt uns die betuliche Idylle den Rücken zu: Die Rückseite der Ding-Erinnerungen, die nicht reden können, bilden die Grenzen der Handlung.
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Auf einer beinahe leeren Bühne findet die Begegnung zwischen Sohn, Mutter, Schwester, Bruder, Schwägerin statt. eine Studie in Unversöhnlichkeit, Narzissmus, gestellter Kommunikation, Erinnerungsmanagement und Sprechangst beginnt. Dass er krank ist, dass er bald stirbt, kann Benjamin seinem städtischen Kulturpublikum frei heraus sagen, der Familie aber nicht. Das Verschweigen bringt die Handlung in Gang.
Regisseur Christopher Rüping hat für das Deutsche Theater seine preisgekrönte Zürcher Inszenierung von »Einfach das Ende der Welt« neu aufgelegt. Das Stück, verfasst von Jean-Luc Lagarce, der 1998 an Aids starb, ist in Frankreich Schullektüre. Xavier Dolan, der berühmte queere franko-kanadische Regisseur, verfilmte den Stoff 2016. Rüpings Fassung ist kein historisierendes HIV-Drama. Auch, dass die Hauptfigur schwul ist, wird nur beiläufig thematisiert. Benjamins »Anderssein«, der Grund, warum er die Familie verlassen hat, im Stich gelassen, wie sich herausstellt, verwandelt sich in einen brutalen Schutz-Narzissmus: Er will, dass die Welt so spielt, wie ihm beliebt, weil er sich selbst nicht kennen mag.
Keine vertraute Berührung ist mit den Familienmitgliedern möglich, das Umarmen ohne Nähe. Benjamins Lösung: Die Familie muss in den Kasten! Wir machen Videos! Er richtet seinen Video-Recorder auf die Verwandten, verlangt von ihnen, dasselbe ihm anzutun. Sie werden Laien-Darsteller, seine Crew, irgendwie vorzeigbar. Aber Wiedersehensfreude lässt sich nicht simulieren. Die Mutter (Corinna Harfouch) kommt mit Sekt und sorgt später für Tränen. Schwer zu ertragen für den Sohn: Die Frau versteht sich nicht ausschließlich als (seine )Mutter – und diese Erwartung lässt sie innerlich brodeln, äußerlich erstarren, einmal explodieren.
Aber: Ja, nicht sagen, was man denkt, was man voneinander hält. Der Bruder (Nils Kahnwald) hält mit seinen Aggressionen am wenigsten hinterm Zaun. Dass sein Leben als Werkzeugmacher, Basketballtrainer, als Vater etwas anderes sein könnte als die stumpfe Fortsetzung der ewig gleichen Kleinfamilienscheiße, diese böse Unterstellung, die Benjamin immer wieder für ihn personifiziert, entwickelt sich zum spannungsreichsten Konflikt des Abends. Matze (Pröllochs), den Benjamin wiederum als seine »große Liebe« deklarierte und zu Gigi Agostino auf die Bühne führt, ist bei der Rückkehr des verlorenen Sohnes längst, das verrät der »Zurückgebliebene«, tot. Benjamin guckt ins Publikum, doch Fans werden ihm nicht helfen.
Die Schwägerin (Maja Beckmann) macht hilflos gute Miene zum bösen Spiel, macht später aus der Not Meta-Slapstick mit der Requisite; aber auch so bricht die Situation nicht auf. Die kleine Schwester (Wiebke Mollenhauer) suchte in Benjamin ein Vorbild, will auch weg angeblich, was anderes sehen und ausprobieren. Aber ist ihr Banksy-Pullover nicht zu viel zu 2012? Wäre sie an Benjamins Seite nicht schlicht peinlich? Kostümbildnerin Lene Schwind gelingt mit solchen Akzenten, die feinen Unterschiede erfahrbar zu machen, durch die Menschen sich trennen lassen.
Die verlassene kleine Familie hat in Benjamins Abwesenheit Spaß im Badezimmer. Man kifft, ist ausgelassen, schafft es als kleine Gemeinde, die auf der Weltbühne keine Rolle spielt, kurz ein bisschen glücklich zu sein. Benjamin ist das unerträglich. Wie ein gekränkter Regisseur kommt er aus dem Dunkel des Zuschauerraums gerannt und stellt klar: »Es geht um mich.«
Denn sein Ende ist »einfach das Ende der Welt«. Er versucht die anderen in Bildern festzuzerren, zwängt sie ein in kleine Szenen für sein Schauspiel. Er wird – endlich? – offen verächtlich. Benjamin will nicht lernen, sich durch die Augen der anderen zu sehen, sondern probiert aus ihnen herauskitzeln, wie ein Regisseur eben, was er hören will an Unverständnis und Enttäuschung. Benjamin Lille spielt den einsamen Verführer seiner selbst beeindruckend vielseitig.
Der lange Beifall nach zweieinhalb Stunden ist die einzig adäquate Reaktion auf diese Inszenierung. Die Darsteller erzeugen eine bedrückende, erstickende Stimmung, wo die Diskrepanz zwischen Fühlen, Sprechen, Handeln eindringlich klar wird. Ausweglos und unversöhnlich, dabei immer wieder hyperaktiv ist das Geschehen auf der Bühne. Ein hervorragender Abend, denn nichts Menschliches ist ihm fremd.
Nächste Vorstellungen: 10.2., 11.2.
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