- Kultur
- Claudia Reuter
»So etwas nenne ich antisemitischen Dreck«
Claudia Reuter über ihre jüdische Herkunft und ihre Erfahrungen mit Vorurteilen und Hass
Claudia Reuter, 1943 in Dresden-Pieschen als Tochter des jüdischen Arztes Wilhelm Herzfeld geboren, hat an der Karl-Marx-Universität in Leipzig studiert und war danach dort Regieassistentin des Operndirektors und Opernregisseurs Joachim Herz. Dabei lernte sie ihren späteren Mann, den langjährigen Dirigenten und Generalmusikdirektor an der Komischen Oper Berlin, Rolf Reuter, kennen (1926–2007). 2001 gründete sie mit Sir Yehudi Menuhin die Internationale Musikakademie zur Förderung musikalisch Hochbegabter in Deutschland, wofür sie das Bundesverdienstkreuz am Bande erhielt. Ihre zwei Töchter sind ebenfalls Musikerinnen, Virtuosinnen auf der Bratsche und der Geige.
Frau Reuter, Sie sind als das sechste und jüngste Kind eines Arztes geboren worden, der knapp dem mörderischen Antisemitismus der Nazis entkommen ist.
Meine Vorfahren väterlicherseits hatten jüdische Wurzeln. Jüdischer konnte man ja gar nicht heißen: Herzfeld. Ende 1944 erschien ein SS-Offizier bei uns in der Praxis und sagte, er habe heute meines Vaters Todesurteil unterschrieben. Sein Name hätte auf der Deportationsliste gestanden. Als Arzt habe Dr. Herzfeld aber seine Mutter gut behandelt. Deshalb rate er ihm, noch in der Nacht aus Dresden zu verschwinden, um sein Leben zu retten. Seine Frau – also meine Mutter – sei als Schweizer Staatsbürgerin sicher, auch wir sechs Kinder, aber er müsse untertauchen.
Wo fand Ihr Vater Zuflucht?
Freunde in Hohnstein versteckten meinen Vater bis Kriegsende. Dresden war zerbombt und wir am Verhungern. Mutters Bruder – mein Onkel Max Huber – holte uns Herzfelds in die Schweiz. Der Rote-Kreuz-Zug brauchte vier Tage bis Bern. Onkel Max, ein Uhrenfabrikant, brachte uns auf einem Gut in Krummholzbad unter, etwa fünfzehn Kilometer östlich von Bern gelegen. Dort bezogen wir ein Stöckli. So hießen die Auszugshäuser auf Bauernhöfen: Ins Stöckli zog der Bauer ein, wenn er den Hof an seinen Sohn übergeben hatte, also so eine Art Alterssitz. Mutter half auf dem Bauernhof. Wir wollten ursprünglich nur wenige Wochen dort bleiben. Doch daraus wurden Monate, schließlich Jahre. Deutschland war inzwischen in Besatzungszonen geteilt, Dresden befand sich in der sowjetischen Zone.
Aber Sie gelangten schließlich doch wieder dorthin zurück?
Der Onkel heuerte 1947 zwei Schleuser an. 10 000 Schweizer Franken in Gold, wenn ihr meine Schwester und ihre Kinder heil nach Dresden bringt. 10 000 Schweizer Franken in Gold! Das wäre heute eine Viertelmillion Euro …
War der Uhrenfabrikant der Verwandtschaft überdrüssig, wollte er sie loswerden?
Nein. Das Heimweh war so stark wie die Liebe. Heidi Herzfeld-Huber wollte unbedingt nach Hause zu ihrem Mann, zu unserem Vater.
Haben Sie noch persönliche Erinnerungen an diese Zeit in der Schweiz?
Ich habe zwei Jahre dort zugebracht, bei meiner Rückkehr in Dresden war ich vier. Die Zeit hat mich durchaus geprägt, ich habe etliche Bilder noch im Kopf, etwa wie wir mit diesen beiden Schleusern – ich glaube, es waren Kriminelle – durch die Wälder fuhren.
Inwieweit spielte das Jüdische eine Rolle in der Familie?
Überhaupt nicht. Mein Vater war Calvinist und meine Mutter gehörte der Reformierten Kirche der Schweiz an. Mein Urgroßvater war konvertiert, um Ehrenbürger von Halle zu werden. Ein Heinrich Herzfeld, ein entfernter Verwandter, hat einmal die gesamte jüdische Familiengeschichte aufgeschrieben, die reicht über Jahrhunderte weit in die Vergangenheit. Ich besitze sie, habe darin auch geblättert, aber mich interessierte es nur mäßig zu erfahren, wer wann wo Rabbiner gewesen ist, welches Geldhaus man besessen oder wer eine Anwaltskanzlei geführt habe … Mich interessieren die letzten hundert Jahre und die überlieferten oder selbst erlebten Geschichten.
Ist es nur das?
Nein. Irgendetwas sperrt sich in mir. Vielleicht hängt es mit meinen Vater zusammen, dass er untertauchen musste. Er hat nie darüber gesprochen.
Und welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Während des Studiums, also Mitte der 60er Jahre, hat eine Dozentin – den Namen verrate ich nicht – zu mir gesagt: »Sie sind ja Jüdin, das sieht man Ihnen sofort an!« Dagegen habe ich mich verwahrt. Nicht weil ich der Ansicht war, nicht wie eine Jüdin auszusehen, sondern dagegen, dass ich auf diese Weise gekennzeichnet, gleichsam stigmatisiert wurde. Oder jenes Jahr nach dem Abitur, als ich bei einem Kollegen meines Vaters in dessen Praxis in Radebeul arbeitete. Es endete auch nicht harmonisch und aus dem gleichen Grunde: Beim Essen machte eine Schwester eine abfällige Bemerkung über Juden. Ich kündigte. Als ich im Klinikum gekündigt hatte, war meine Mutter entsetzt. Das seien doch so wunderbare Menschen dort.
Sehen Sie die Federzeichnung da drüben? Da hat mich Hans Körnig, ein Dresdner Maler, mit 13 porträtiert. Jüdischer, finde ich, kann man nicht aussehen. Dazu stehe ich auch. Aber ich nehme daran Anstoß, wenn man mich auf diese Weise etikettiert. Natürlich beleidige ich niemanden, wenn ich sage: Du siehst aus wie ein Deutscher oder wie ein Schweizer. Aber angesichts der unzähligen denunziatorischen Karikaturen krummnasiger Figuren in der Nazipropaganda verbietet sich die Bemerkung: Du siehst aus wie ein Jude. Denn letztlich greift es auf eben jene Stereotype zurück. Erinnern Sie sich an den »Spiegel«-Titel Anfang 1990 mit Gregor Gysi? Ein listig, geradezu hinterlistig durch seine kreisrunde Brille den Betrachter fokussierender Mann: »Der Drahtzieher«. So etwas nenne ich antisemitischen Dreck.
Ich vermute, dass Sie unlängst einen Anruf von Herrn B., einem Filmemacher, bekommen haben. Der recherchiert zu deutschen Auswanderern in Russland. Ihm habe ich erzählt, dass Vorfahren Ihres Mannes im Kaukasus gesiedelt haben.
Ja, der hat bereits angerufen.
Ich fuhr ihn vor über einem Jahr nach einem Treffen mit Hans Modrow in sein Hotel nach Charlottenburg. Wir kamen am Holocaust-Mahnmal vorbei. Da monierte er erstens den Ort und zweitens die Dimension. Gut, sagte ich versöhnlerisch, man kann aber auch darüber reden, warum es für die größte Opfergruppe nächst den Juden kein Denkmal in Berlin gibt. ›Wer soll das sein?», fragte er, der doch einen Film über deutsche Einwanderer in Russland machen will. Ich sagte: 3,3 Millionen russische Kriegsgefangene, die in Deutschland verreckten, verhungerten oder anderweitig umgebracht wurden. Darauf er: «Ist das verbürgt?» Na klar. Ein paar Meter weiter hebt er wieder an: «Mein Vater war Reichstagsabgeordneter.» Ach, entgegnete ich. Für welche Partei? «Na, für die NSDAP.»
Ach, du lieber Gott.
Und dann erzählt er, sein Vater war auch Kreisleiter der NSDAP in Glogau in Schlesien. Er selbst habe als Vierjähriger Paraden erlebt, was ihm noch heute sichtlich das Herz erwärmte. Sein Vater sei am 3. April 1945 im Kampf gegen die «Russen» gefallen. – Ich schwieg betreten und tröstete mich, dass es bis zum Savignyplatz nicht mehr weit war. Plötzlich sagte er: «Ich wäre auch in der FDJ gewesen.»
Was sollte das denn heißen?
Er wollte wohl sagen, hätte er in der DDR gelebt, hätte er sich genauso opportunistisch verhalten, wie er meinte, dass ich es getan habe.
Das ist ja widerlich und dumm. Also, meine Lebenszeit ist zu kurz, dass ich mich auf ein Gespräch mit dem einlasse.
Wissen Sie, ich hatte im Februar 2011 ein unglaubliches Erlebnis. Wir, also unsere Internationale Musikakademie zur Förderung musikalisch Hochbegabter, hatten in Rheinsberg einen mehrtägigen Kammermusik-Workshop. Da ging es um Dmitri Schostakowitsch und seine 7. Sinfonie, die während der dreijährigen Belagerung Leningrads durch deutsche Truppen entstanden war. Etwa eine Million Menschen verhungerten in der Stadt, und Schostakowitsch war dort auch von einem deutschen Schrapnell am Kopf getroffen worden, worunter er bis zu seinem Tod 1975 litt. Professor Michael Erxleben gab den 17 Teilnehmern eine umfassende Einführung, und die Cellistin – sie kam aus Israel – spielte danach unter Tränen. Sie kannte bis dahin nur die Noten, nicht den Hintergrund. Sie war ahnungslos bis zu jenem Tag. Und wie das nun plötzlich aus ihr herausbrach, wie sie das gerade Erfahrene, das Wissen um das Leiden und Sterben der Menschen in einer ihr fernen russischen Stadt grandios in Musik umsetzte … Unglaublich!
Claudia Reuter ist am Donnerstag, 25. Januar, 15 Uhr, zu Gast beim «Rendezvous» in der Hellen Panke, Kopenhagener Str. 9, 19437 Berlin, wo sie ihr Buch «Die Frau des Generals» (Verlag am Park) vorstellt.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.