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Anspruch auf Beatitude

Gleich zwei Berliner Ausstellungen zeigen Fotografien von Gundula Schulze Eldowy, die im Februar ihren 70. Geburtstag feiert

  • Silke Kettelhake
  • Lesedauer: 5 Min.
Gundula Schulze Eldowy: »Lothar«, 1983
Gundula Schulze Eldowy: »Lothar«, 1983

Wenige Tage bzw. Wochen vor ihren beiden Berliner Ausstellungseröffnungen in diesem Januar treffe ich Gundula Schulze Eldowy in ihrem Dachstuben-Atelier in Berlin-Pankow. Der Lärm der Stadt bleibt unten, hinter dem Fenster neigen hochgewachsene Tannen ihre Köpfe im Wind. Überall lehnen Schulze Eldowys Fotografien, schon fertig verpackt. Nur der »nackte Lothar«, für die Schau im Bröhan-Museum bestimmt, noch nicht.

Schulze Eldowy, die am 23. Februar ihren 70. Geburtstag feiert, erzählt über die Zeit in Berlin während ihrer Abschlussarbeit, 1983, an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst: »Lothar ging jeden Tag an mir vorbei, zielstrebig, immer mit dem gleichen zackigen Schritt, wie ferngesteuert. Im Mund die Pfeife, die riesige Aktentasche quer über der Brust, in Uniform, er gehörte nicht sich, sondern den Berliner Verkehrsbetrieben. Er war Bote, deshalb hatte er es immer eilig, er nahm mich nicht wahr. Eines Tages versperrte ich ihm einfach den Weg. Ich fotografierte ihn auf dem Hof seiner Arbeitsstelle. Er stand da, völlig gleichgültig. Das Leben lief einfach so weiter. Nach diesem Ereignis flitzte er wieder oft an mir vorbei, und ich forderte ihn immer wieder auf: ›Schau doch mal dein Bild an, komm mal zu mir!‹ Aber er kam nie. Es dauerte ein Jahr. Während ich sein Bild heraussuchte, sprach ich von meiner Diplomarbeit, den Aktfotos. Da wurde er hellhörig: ›Ach, ich möchte so gerne ein Nacktfoto von mir!‹ Hinter mir ein Rascheln. Ich drehte mich um, und da stand er, nackt. ›Lothar, zieh dich bitte wieder an!‹ – ›Nein!‹, tönte er wie ein kleiner Junge, es war ein langgezogenes Nein.«

Schulze Eldowy ahmt ihn nach: »Ich wollte immer schon ein Nacktfoto von mir haben, habe mir immer schon eins gewünscht!« Dass er nicht der Typ dafür sei, wollte er nicht hören. Schließlich gab die Fotografin nach, beeindruckt von Lothars Trotz – allerdings fand sie, das Setting für ein solches Bild sollte seine eigene Wohnung sein. Entstanden ist dort dann eine legendäre Fotografie: Lothar, ein Urgestein aus Berlin-Mitte, allein auf seiner Bettcouch, nackt, mager, mit verlorenem Blick.

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Ostberlin mit seinem Narbengesicht, mit seinen vergessenen Seelen: Hier findet Schulze Eldowy ihre Motive. »Damals hatte Lothar den entscheidenden Einfluss auf meine Arbeit, ich war so 26 und fotografierte hauptsächlich Gleichaltrige. Durch ihn habe ich dann ganz offen fotografiert – alle sozialen Schichten, Kinder, Alte, junge Menschen, Paare. Ohne Grenzen«, sagt sie. In den Künstlerkneipen in Prenzlauer Berg diskutierten Fotografinnen und Fotografen das perfekte Bild, den perfekten Ansatz, das perfekte Licht. Schulze Eldowy: »Die wussten vorher schon, wie ein Bild auszusehen hat. Das war für mich völlig daneben. Ich bin eher intuitiv, spontan.«

Als die 15-Jährige 1969 das erste Mal aus ihrer Geburtsstadt Erfurt nach Berlin reist, ist es um sie geschehen. Sie folgt dem Schlagwort ihrer Großmutter: »Geh, und dreh dich nicht um. Kümmere dich nicht um das, was hinter dir liegt. Geh!« Die Enkelin findet die verborgene Lebendigkeit in der großen, nutzlosen Stadt, entdeckt die amerikanische Straßenfotografie für sich, Paul Strand, Diane Arbus. 1985 die erste Begegnung mit dem schweizerisch-amerikanischen Fotografen Robert Frank, der mit seinem Reportageband »The Americans« von 1958 das soziale Elend der USA aufzeigte. Die beiden formten eine Verbindung, die mithilfe geschmuggelter Briefe nicht abreißen sollte – und die nun ihr Echo in der aktuellen Ausstellung der Berliner Akademie der Künste findet, mit Arbeiten und Korrespondenzen von Fotograf und Fotografin.

Ostberlin, das war Open Space: »Wir hatten unendlich viel Zeit. Zeit füreinander. Es herrschte so eine Stille, eine Ruhe. Zeit war immer da. Im Überfluss.« Ihre Bilder entsprachen so gar nicht dem Idealtypus des fleißigen, strebsamen, sauberen sozialistischen Menschen, und natürlich eckten sie an: »Von Anfang an glaubte ich, ich fotografiere, ohne je auszustellen. Es wagten nur wenige, diesen Blick in der Kunst nach außen zu tragen. Deswegen fielen meine Bilder auf. Und sie fielen so sehr auf, dass sich die Gemüter entzündeten. Ständig gab es Angriffe, das seien ja alles kaputte Typen.«

Ihre Rolle als Enfant terrible brachte Schulze Eldowy Aufmerksamkeit: »Das Beste, was mir passieren konnte: ein Skandal nach dem anderen.« Für ihre erste Ausstellung im Westen, 1988 in Zürich, durfte sie ausreisen und kehrte danach zurück in den Osten. Die Schau im Zürcher Museum für Gestaltung markierte den Anfang einer weltweiten Karriere, bis ins MoMA in New York. Auftragsarbeiten, etwa für die DDR-Frauenzeitschrift »Sybille«, hat Schulze Eldowy nie erfüllt: »Das kann ich gar nicht!« Sie lacht ihr kräftiges Lachen. »Ich blieb immer unabhängig. Bis heute. Es gab Angebote von wunderbaren Galerien, Exklusivverträge. Vom Kunstmarkt lasse ich mich aber nicht vereinnahmen.«

Der Mauerfall war für sie der Startschuss, sie reiste nach New York: »Robert lud mich ein. Ich erlebte die Beatniks. Sie spielten, sie versuchten sich in dem großen Spiegelkabinett von Manhattan: Beatitude, das meint Glückseligkeit – den Anspruch zu haben, den Anspruch zu verteidigen, glücklich zu sein. So wie Lothar. Das hat mir gefallen. Meine Bilder haben mich immer geführt. Als Fotografin und als Mensch.«

»Berlin in einer Hundenacht. Gundula Schulze Eldowy«, bis zum 14. April, Bröhan-Museum, Berlin;
»›Halt die Ohren steif!‹ Gundula Schulze Eldowy und Robert Frank«, Eröffnung am Mittwoch, bis zum 1. April, Akademie der Künste, Berlin.

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