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USA: Die im Penthouse und die im Keller
Isabel Wilkerson sieht die US-Gesellschaft in »Kasten« unterteilt
Angekommen an Bord, bittet sie den Flugbegleiter, ihr den schweren Koffer in die Gepäckablage zu hieven. »Gehen Sie weiter«, sagt der, »in der Economy Class wird man Ihnen behilflich sein.« – »Ich fliege aber 1. Klasse.« Ungläubig prüft er ihr Ticket. Wieder einmal erlebt Isabel Wilkerson, dass sie nicht weiß ist. Obwohl sie in Harvard und Princeton lehrte und lange das Büro der »New York Times« in Chicago leitete, ist sie zurückgesetzt. Selbst der Pulitzer-Preis für Journalistik als erste Schwarze Frau konnte manche fragen lassen, ob es nicht eine symbolische Geste war.
Zwar ist laut »Civil Rights Act« in den USA jede auf Rasse, Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder nationale Herkunft begründete Diskriminierung verboten. Aber das Gesetz wurde erst 1964 (!) von Lyndon Baines Johnson unterschrieben. Und erst ein Jahr später gab es ein Wahlrecht für alle.
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Wäre Isabel Wilkerson nicht 1961, sondern zehn Jahre früher geboren worden, hätte sie vollumfänglich erfahren müssen, was Rassentrennung bedeutet. Obzwar es ihre Eltern in die Mittelschicht geschafft hatten, die Bedrückungen ihrer Vorfahren lebten weiter in Form von Verboten, Vorsichtsmaßregeln und Forderungen, umso arbeitsamer zu sein. Wilkersons Buch wirkt deshalb so stark, weil es ohne Illusionen ist. »Das Kastensystem in den USA ist 400 Jahre alt und wird nicht durch ein einziges Gesetz oder eine noch so mächtige Person aus der Welt geräumt werden.«
Seit der Ankunft des ersten Sklavenschiffs 1619 in Virginia sind die afrikanischen Menschen nichts weiter als Handelsware gewesen, jeglicher Willkür preisgegeben. Für den Anbau von Tabak, Zuckerrohr, Reis und Baumwolle stellten sie die dringend benötigten Arbeitskräfte. Nicht nur ihrem Herrn, sondern jeglichem Weißen hatten sie sich zu unterwerfen. Gleichzeitig brachte das »Weißsein« die so unterschiedlichen europäischen Einwanderer zu einer Nation zusammen.
»Neuankömmlinge lernen, um die Gunst der dominanten Kaste zu buhlen und sich von den unteren Kasten abzugrenzen. Sie lernen, sich dem Diktat der dominanten Kaste anzupassen, wenn sie in ihrem neuen Land gedeihen wollen, und Schwarze Menschen als historische Kontrastfiguren anzusehen, über die man sich in einer rauen Wirtschaft, in der alle nur für sich selbst arbeiten, erheben kann.«
Kaste: Der Begriff wird gemeinhin für Indien gebraucht, worauf im Buch ausführlich eingegangen wird. Aber »Rasse« ist der Autorin suspekt. Ein Kapitel widmet sie auch den »Rassengesetzen« der Nazis. Mit Kaste ist eine weitaus komplexere Statushierarchie bezeichnet. Wie man es auch wegzureden versucht, in allen Einwanderungsmilieus werden Unterschiede geltend gemacht; nicht nur zwischen Europäern, Latinos, Asiaten, auch Schwarze Menschen betrachten Hauttönungen als Distinktionsmerkmal. Ein Verteilungskampf, nicht nur im materiellen Sinne: Es geht um »Gewährung oder Verweigerung von Respekt, Status, Ehre, Aufmerksamkeit, Privilegien, Ressourcen, Wohlwollen und menschliche Zuwendung … auf der Grundlage von Rang und Stellung innerhalb der Hierarchie«.
Isabel Wilkerson beeindruckt gerade dadurch, wie sie in ihrer persönlichen Empörung und ihrem Gerechtigkeitsstreben die unangenehme Tatsache nicht verdrängt, dass jede noch so gerechte Forderung, je radikaler sie sich äußert, auch ihr Gegenteil bestärken kann. Wie glücklich ist sie über die Wahl von Barak Obama gewesen. Zugleich war ihr klar, wie »seine Herkunftsgeschichte die Angehörigen der dominanten Kaste« davon befreite, »sich mit den unangenehmen Seiten der amerikanischen Geschichte auseinandersetzen zu müssen«. Entlarvendes Zitat von Joe Biden: »Hier habt ihr den ersten Afroamerikaner der Mitte, der wortgewandt, intelligent und sauber ist und gut aussieht.«
Obamas Präsidentschaft befriedete das Land nicht. Die »Tea Party« entstand. »Auf Kundgebungen der Opposition schwangen die Menschen Waffen und trugen Schilder mit der Aufschrift ›Tod für Obama‹.« Der Republikanischen Partei gelang es, Änderungen am Wahlrecht vorzunehmen. »Eine Studie von 1912 ergab, dass in Obamas erster Amtszeit antischwarze Haltungen und rassistische Vorureile zugenommen haben.«
Das Kastensystem setzt die Reichsten und Mächtigsten »ins Penthouse eines mythischen Hochhauses und alle anderen, in absteigender Reihenfolge, in die Etagen darunter. Die Menschen der untergeordneten Kaste werden in den Keller verbannt … Wenn sie beginnen, in die darüberliegenden Stockwerke aufzusteigen, ist die Statik des gesamten Gebäudes bedroht. So ist es dem Kastensystem möglich, Kellermenschen in einem Untergeschoss, das gerade überschwemmt wird, gegeneinander aufzubringen und Panik auf Grund der Illusion zu erzeugen, dass die einzige Konkurrenz, die sie haben, die anderen Kellermenschen sind.«
Aufsteiger werden gehasst, wenn man ihnen nicht zu folgen vermag. Abgrenzung gegen Ärmere stärkt das Selbstgefühl. Ohne Sündenböcke würde das System nicht funktionieren. Auf mitreißende Weise wechselt die Autorin zwischen erzählerischen Passagen und analytischen Betrachtungen. Raum für Überlegungen: Ist Deutschland wirklich beispielhaft, ein menschenfeindliches Kastensystem zu überwinden? Es stimmt: Selbst die Privilegiertesten werden eines Tages zur verachteten »Kaste der Alten« gehören. Doch wie du Pflege bezahlen kannst, macht durchaus einen Unterschied.
Isabel Wilkerson hätte es sich leicht machen können, den gängigen Weg identitätspolitischer Forderungen einzuschlagen. Aber so nachvollziehbar es ist, Benachteiligungen einer Bevölkerungsgruppe (und der eigenen Person) anzuprangern, wird das System kapitalistischer Konkurrenz nicht infrage gestellt. Dagegen setzt sie am Schluss des Buches ein beinahe schon kommunistisches Bekenntnis: »Eine Welt ohne Kaste würde alle Menschen befreien.« Wie soll das möglich sein? Würden dann alle Economy fliegen?
Isabel Wilkinson: Kaste. Die Ursachen unseres Unbehagens. A. d. Amerik. v. Jan Wilms. Kjona-Verlag, 576 S., geb., 36 €.
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