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Die Stille von Kabul
Seit die Taliban über Afghanistan herrschen, unterbinden sie Musik. Auch klassische Musiker aus Kabul sind davon betroffen
In den vergangenen Jahrzehnten haben sich viele Gassen in Kabul verändert. Während ihre einstigen Bewohner vor Krieg und Terror geflüchtet sind, haben sich andere – meist deutlich ärmere Afghanen aus anderen Provinzen – in der afghanischen Hauptstadt niedergelassen. Das hat zu einem rasanten Anstieg der Einwohnerzahl geführt, heute leben in Kabul rund 4,3 Millionen Menschen.
Auch Kharabat, die Kabuler Altstadt, hat sich sehr verändert. Einst lebten hier viele Sikhs und Hindus. Mittlerweile haben die meisten Mitglieder dieser religiösen Minderheiten wegen der Verfolgung und Unterdrückung das Land verlassen. Der naheliegende Sikh-Tempel steht leer und ist verriegelt. »Die sind schon längst in Indien oder in Kanada«, sagt ein Händler, der neben dem Tempel arbeitet.
Wer durch die Gassen von Kharabat läuft, bemerkt viele neue Gesichter. Einige von ihnen sprechen Paschto. Andere Farsi-Dialekte aus den nördlichen Regionen des Landes. Das originale Kabuli, der persische Dialekt der afghanischen Hauptstadt, ist zwar noch da. Allerdings ist er etwas rarer geworden. »Hier hat sich vieles verändert«, sagt Asadullah Cheshti lächelnd. »Doch solange wir hier sind, wird vieles auch gleich bleiben.« Er trägt einen sauberen, weißen Peran Tumban, eine grün schimmernde Weste und hat seine langen, weißen Haaren elegant zurückgekämmt. Seine etwas dunklere Hautfarbe lässt erahnen, dass Cheshtis Vorfahren, ähnlich wie die meisten »echten« Kharabatis vor Jahrhunderten von Indien nach Afghanistan kamen – und ihre traditionelle Musik hierher brachten.
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Bis heute ist Kharabat bekannt als das ehrwürdige Musikerviertel Kabuls. Praktisch alle Meister der klassischen afghanischen Musik, Männer wie Mohammad Hossain Sarahang, Abdul Mohammad Hamahang oder Rahim Bakhsch stammten von hier. Der 60-jährige Cheshti kennt Kharabat wie seine Westentasche. Kein Wunder, denn auch er gehört zu den Meistern seiner Zunft. Seit fast einem halben Jahrhundert spielt er die Tabla. Cheshti ist mit den zwei Trommeln praktisch aufgewachsen und gehörte zu den Schülern einer weiteren Legende aus Kharabat: Mohammad Haschem Cheshti, dessen Beinamen er aus Respekt vor seinem Meister angenommen hat.
Heute sollte es eigentlich Assadullah Cheshti sein, der die nächste Generation der Tablaspieler Kharabats ausbildet. Doch seit die militant-islamistischen Taliban im August 2021 abermals die Macht im Land übernommen haben, wird weder ein Instrument gespielt noch ein Lied gesungen. Bereits während des ersten Taliban-Regimes in den 90er-Jahren erließen die Extremisten ein Musikverbot. Fernsehgeräte oder Kassetten wurden beschlagnahmt und zerstört, Musiker und Musikerinnen verbannt. Fünf Jahre lang herrschte in Afghanistan Totenstille. Mittlerweile erscheint zumindest nicht alles so schlimm wie damals, wenngleich die »neuen« Taliban in vielerlei Hinsicht weiterhin die alten sind. Ihre Ideologie ist mit Musik nicht vereinbar. Musik schaffe moralische Verdorbenheit, sagen sie, und führe die Jugend auf Abwege.
In einigen Regionen des Landes wurden Instrumente zerstört und Musiker gefoltert. Wer im Auto mit Musik erwischt wird, hat nicht immer, aber meistens mit Problemen oder zumindest dummen Sprüchen seitens der Taliban-Fußsoldaten zu rechnen. Radiosender spielen nur noch Koranverse. Auf Hochzeiten darf keine Livemusik mehr gespielt werden, weshalb die eigenen Youtube-Playlisten herhalten müssen. Hierfür muss man sich im Vorfeld in der Regel mit den lokalen Taliban-Kämpfern arrangieren und sie gegebenenfalls mit warmer Mahlzeit oder Bargeld schmieren. Alle Musiker, auch jene wie Asadullah Cheshti und seine Söhne, sind arbeitslos geworden und müssen sich anderweitig über Wasser halten.
»Wir haben nichts anderes gelernt. Wir können nicht plötzlich einen Laden führen oder Essen verkaufen«, beschwert sich Cheshti und erklärt, dass er praktisch zum Scheitern verurteilt sei. Viele seiner Zunft hätten das Land verlassen, doch er wollte diesmal bleiben. Wie viele Afghanen lebte einst auch Cheshti jahrelang als Geflüchteter im Nachbarland Pakistan. Er spielte in den Flüchtlingslagern Peschawars oder in den Gasthäusern Waziristans. Sein Handwerk wurde geschätzt.
Selbst die Taliban wissen, dass die Musiker Kharabats keine billigen Hochzeitssänger sind, die mittels Autotune und Youtube nach Berühmtheit und viel Geld lechzen. Sie sind echte Meister, deren Gesänge und Musik oft Inhalte des spirituellen Islam und des Sufismus aufgreifen. »Sie kamen hierher, sahen unsere Instrumente und meinten etwas ehrfürchtig, dass von nun an nicht mehr gespielt werden dürfe«, sagt Asadullah Cheshti, während einer seiner Söhne in einem kleinen Kiosk sitzt und einem Kunden Energiedrinks und Zigaretten verkauft. Den Kiosk kaufte Cheshti mit seinem letzten Ersparten, um die Existenz seiner Familie zu sichern. Früher war der Tabla-Meister ausgebucht und seine Söhne studierten Musik, um irgendwann in die Fußstapfen des Vaters zu treten.
Während die Taliban der bekannten afghanischen Musik den Krieg erklärt haben und Asadullah Cheshti und anderen Musikern ihr Leben erschweren, hören viele Taliban selbst Musik. Das ist bekannt, und darauf sprach eine ausländische Journalistin den Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahed in einem Interview vor rund einem Jahr an: »Sie haben Musik verbannt. Doch ihre Kämpfer hören an ihren Checkpoints Musik. Können sie das erläutern? Was für Musikvorlieben haben Sie?«, fragte sie. Mujahed antwortete, dass er gar keine Musik höre und seine Kämpfer auch nicht. Vielmehr würden sie religiöse Kampfgesänge, sogenannten Taranas, hören, die meist über Taliban-Kanäle verbreitet werden. Diese würden allerdings keine Musik im eigentlichen Sinne darstellen.
Ein Mann, der dem widerspricht, ist der afghanische Musikwissenschaftler Mirwais Siddiqi, der einst klassische Musik in Kabul unterrichtete und in den letzten zwanzig Jahren vor Ort für verschiedenen Institutionen wie der Agha-Khan-Stiftung tätig gewesen ist. Siddiqi wirkte und studierte unter anderem in Frankreich, Großbritannien und Deutschland. Er ist ein weltgewandter Kosmopolit, der neben Persisch und Paschto Deutsch, Französisch und Englisch spricht. »Die Taliban hören Musik, aber sie wollen es nicht zugeben. Ihre Taranas sind nichts anderes als Musik«, sagte Siddiqi während einer Veranstaltung im vergangenen Juni in Wien. Dann erklärte er, dass die Taliban sich an bekannten Tönen und Rhythmen orientieren würden, um ihre eigene Musik zu komponieren. »Sie wenden sich hierfür sogar an bekannte Sänger und verlangen von ihnen, Taranas zu produzieren.«
Während seines Vortrags an der Universität für Musik und darstellende Kunst zeigte Siddiqi Videoausschnitte von privaten Konzerten und Hochzeiten aus dem Kabul der 70er- und 80er-Jahre, dem Zeitalter der afghanischen Popmusik. Besonders prägnant ist etwa eine Aufzeichnung der bekannten Sängerin Hangama, die damals offenes, kurzes Haar und westliche Kleidung trug. Ein Anblick, der nicht nur heute unter dem Taliban-Regime, sondern auch im Kabul der letzten zwanzig Jahre unvorstellbar gewesen wäre. Während Siddiqi die Szenen und die Musik beschrieb, wurde er emotional. Ähnlich verhielt es sich mit vielen Afghanen im Publikum, die aufgrund von Siddiqis Vortrag nostalgisch werden. Damals das vermeintlich friedvolle Kabul, in dem musiziert und getanzt wurde. Heute das dunkle Regime der Männer mit den schwarzen Turbanen.
Die Vorstellung von Heimat innerhalb der afghanischen Diaspora unterscheidet sich meist in vielerlei Hinsicht von den Realitäten der Menschen vor Ort. Der Beruf des Musikers wird etwa nicht von den Taliban verachtend abgelehnt, sondern auch von weiten Teilen der traditionell-konservativen Gesellschaft. Singende Frauen werden nicht nur von Fundamentalisten und Fanatikern mit Prostituierten gleichgestellt. Bekannte afghanische Musiker wie Sediq Fitrat, hauptsächlich bekannt als »Nashenas« („Der Unbekannte“) sangen jahrelang, während sie gleichzeitig die Wut ihrer Väter fürchteten und deshalb anonym blieben. Auch die einstigen Events mit Popikonen wie Hangama oder ihrem bekannten musikalischen Partner, Ahmad Wali, waren nicht repräsentativ für Afghanistan, sondern nur für einen kleinen, bürgerlichen Milieu in Kabul.
Asadullah Cheshti kennt alle bekannten Musikerinnen und Musiker Afghanistans, doch sein Metier unterscheidet sich, ähnlich wie sein ganzes Leben, deutlich von jenem einer Hangama. Immerhin lebt diese seit Jahrzehnten in Kanada, während der Tabla-Meister in den Gassen von Kharabat geblieben ist. Dass die Taliban trotz vehementen Leugnens tatsächlich Musik hören würden, bestätigt auch Cheshti. »Natürlich ist auch das, was sie hören, eine Form von Musik«, sagt er lächelnd. »Vielleicht sehen sie das irgendwann ein und gestatten uns dann wieder, unserer Berufung nachzugehen.«
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