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Viel Gewalt gegen Obdachlose in Berlin
2023 gab es laut Polizeistatistik 445 Fälle von Gewalt, die sich gegen Obdachlose richtete
Gewalt gegen Obdachlose bleibt in Berlin konstant hoch. Das geht aus der Antwort des Senats auf eine Anfrage von Taylan Kurt, Sprecher für Sozialpolitik und Armutsbekämpfung der Grünenfraktion im Abgeordnetenhaus, hervor. 2023 gab es demnach 445 Fälle, in denen Obdachlose Opfer einer Gewaltat wurden. In den Jahren zuvor verzeichnete die Polizei eine ähnlich hohe Anzahl an Fällen: 2021 waren es 455, 2022 gab es 421 Fälle. Bei einem Großteil der Taten in der Polizeistatistik handelt es sich um Köperverletzungsdelikte. Einfache Körperverletzung wurde 212 Mal erfasst, gefährliche und schwere Körperverletzung 141 Mal. Rund ein Viertel der Opfer sind Frauen.
Im bezirklichen Vergleich ist Charlottenburg-Wilmersdorf mit 32 aufgenommenen Fällen an der Spitze, gefolgt von Friedrichshain-Kreuzberg mit 18 und Lichtenberg mit 14 Fällen. Die Statistik ist eine Verdachtsstatistik, das heißt, sie bezieht sich auf von der Polizei aufgenommene Anzeigen. Aus welchen Motiven die Gewalttaten begangen wurden, lässt sich aus der Statistik nicht ablesen. Auf die Frage, ob die Fälle einen »sozialdarwinistischen Hintergrund« hätten, konnte der Senat keine Antwort geben. Allerdings habe es 2023 keinen Fall von Gewalt gegen Obdachlose gegeben, der dem Bereich »Politisch motivierte Kriminalität – rechts« zugeordnet werden könne.
»Die Antwort ist nichtssagend«, meint Kurt im Gespräch mit »nd«. Es sei klar, dass es eine hohe Dunkelziffer gebe, weil Obdachlose ganz oft nicht zur Polizei gingen. »Die Menschen haben Angst und wollen auch keinen Stress.« Ihn ärgere, dass der Senat diese Einordnung nicht selbst vornehme.
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Ein Aspekt der Statistik zeigt eine Veränderung: Von 2019 bis 2023 ist die Anzahl der aufgenommenen Fälle von betroffenen Frauen von 67 auf 101 angeschwollen. »Wenn man diese Zahlen ernst nimmt, dann heißt das, dass es mehr Schutzräume braucht, gerade auch für obdachlose Frauen, nicht nur nachts, sonder auch tagsüber«, so Kurt. Der Senat tue in dieser Hinsicht viel zu wenig, was man auch daran sehe, dass »Evas Obdach« in Neukölln von Verdrängung bedroht sei (»nd« berichtete). »Da wundern die Zustände nicht. Und das ist traurig.«
»Die Statistik ist wenig aussagekräftig«, meint auch Kati Becker, Projektkoordinatorin des Berliner Registers, im Gespräch mit »nd«. »Bei Menschen, die gerade viele andere Probleme haben, wie einen Schlafplatz oder Essen zu finden, ist es oft nicht die erste Priorität, zur Polizei zu gehen.« Das Berliner Register dokumentiert Diskriminierungen und rechtsextreme Aktivitäten. 2023 zählte es 13 Fälle von obdachlosenfeindlicher oder sozialchauvinistischer Gewalt. Aber: »Nur vier von diesen 13 Leuten sind zu Polizei gegangen«, so Becker.
Es gebe auch viele Fälle von Gewalt gegen Obdachlose, die das Register nicht aufnehmen könne, weil sich das Motiv nicht eindeutig identifizieren lasse, so Becker. »Dadurch, dass Obdachlose im öffentlichen Raum leben, sind sie sehr viel Gewalt ausgesetzt.« So sei etwa ein Obdachloser, der im Vorraum einer Sparkasse geschlafen habe, zusammengeschlagen worden. Weil der Hintergrund des Angriffs unklar sei, habe es der Fall aber nicht in die Statistik geschafft.
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