- Kultur
- Berlinale
Die falsche Mauer
Die Nachwirkungen des Holocaust als Vater-Tochter-Roadmovie in Polen: »Treasure« im Berlinale-Special
Wie kann man heutzutage den Holocaust thematisieren und Betroffenheit auslösen, ohne sie zu fordern? Julia von Heinz konzentriert sich in ihrem ersten internationalen Spielfilm »Treasure« auf die Beziehung eines KZ-Überlebenden zu seiner US-amerikanischen Tochter und deren Suche nach Spuren ihrer Vergangenheit. Dabei gelingt der Regisseurin eine zutiefst menschliche Annäherung an dieses Thema, das längst nicht auserzählt ist. Nach »Hannas Reise« (2013) sowie »Und morgen die ganze Welt« (2020) ist es ihr dritter Film über die Auswirkungen des Nationalsozialismus auf die nachfolgenden Generationen und beendet damit ihre »Aftermath-Trilogie«. Als Vorlage für »Treasure« dient »Too Many Men«, der autobiografisch beeinflusste Roman von Lily Brett, Tochter zweier Auschwitz-Überlebender.
Warschau, 1991. Seit ihre Mutter gestorben ist, fühlt sich Ruth Rothwax (Lena Dunham) ihrem Vater Edek (Stephen Fry) wenig verbunden. Deshalb hat die New Yorker Musikjournalistin ihren Vater überredet, mit ihr nach Polen zu reisen, um dessen jüdischen Wurzeln nachzuspüren. Er hatte Auschwitz überlebt und das Land für immer verlassen.
Für Ruth ist die Zusammenkunft mit ihrem Vater in Warschau eine Geduldsprobe. Erst verpasst Edek ihren gemeinsamen Flieger, dann verschwindet er kurz nach seiner Ankunft wieder. Dass Edek dann noch einen Taxifahrer für die ganze Reise bucht, obwohl seine Tochter jede Station durchgeplant hat, ärgert die 36-Jährige. Während die Journalistin immer tiefer in antisemitische Literatur eintaucht, scheint Edek ihren einwöchigen Roadtrip auf die leichte Schulter zu nehmen und knüpft neue Bekanntschaften. Den gescheiterten Besuch des ehemaligen Warschauer Ghettos macht Edek zu einem Touri-Event und lässt sich mit seiner Tochter vor einer Mauer knipsen, die nie zum Ghetto gehörte – doch »eine Mauer ist eine Mauer«, sagt er.
Ruth besucht mit ihrem Vater die Orte seiner Kindheit und erfährt, dass der Familie vor ihrer Enteignung eine Baumwollfabrik und eine Wohnung in Łódź gehörten. Nach und nach kommen alte Dinge und Erinnerungen zum Vorschein. Besonders berührend ist der gegensätzliche Umgang von Vater und Tochter mit der verschwundenen Vergangenheit. Ruth hält mit ihrem Fotoapparat alles fest, Edek verdrängt.
Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.
Auch der Cast hat mit diesem Land zu tun. Lena Dunhams Familie hat polnische Wurzeln, ihr Urgroßvater wurde in Łódź geboren. Stephen Fry verlor seine Großcousinen in Auschwitz. Vor Ort fand das Team weitere Querverbindungen. Gedreht wurde im ehemaligen deutschen Konzentrationslager Auschwitz II/Birkenau, an der Rampe, wo eine halbe Million Juden in Deportationszügen ankam. Um die Ruhe der Gedenkstätte nicht zu stören, durfte das Team nur den Zaun, den Parkplatz und den Eingang abfilmen. Die Kamera lässt sich Zeit, um das weitläufige KZ-Areal vorzustellen, eine Fremdenführerin trägt die Fakten vor: Über eine Million Menschen starben in Auschwitz. Seit 1979 zählt der größte Teil des ehemaligen Vernichtungslagers zum Unesco-Welterbe, das von vielen Touristen besucht wird.
Als Edek im Film über die übrig gebliebenen Ziegel seiner ehemaligen Baracke streicht, hört man ein kratzendes Geräusch. Er erzählt, wie er mitbekam, wie nach und nach die Menschen um ihn herum abgeführt, umgebracht und verbrannt wurden: »Ich dachte, der Gestank bleibt für immer«. Als später im Hotel ein falscher Feueralarm ausgelöst wird, verweben sich Ruths Worte mit Edeks Gedanken: »Ich hatte Angst, dass du lebendig verbrannt wirst.« Eine harte Parallele.
»Treasure«, Deutschland/Frankreich 2024. Regie: Julia von Heinz. Mit: Lena Dunham, Stephen Fry, Zbigniew Zamachowski. 112 Min. Termin: 22.2., 21.45 Uhr, HKW 1/Miriam-Makeba-Auditorium.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.