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Plötzlich hat man Zeit für Kardinalfragen
Die herbe Poesie des Lockdowns: »Hors du temps« von Olivier Assayas im Wettbewerb
Schon blicken wir auf den Corona-Lockdown wie durch einen Weichzeichner – jedenfalls hier in »Hors du temps« von Olivier Assayas. Die unmittelbare Angst vor einem tödlichen Krankheitsverlauf ist inzwischen verflogen, ob nun zu Recht oder nicht, da zeigen sich nun andere Seiten dieses lähmenden Zustandes. »Außerhalb der Zeit«, so die deutsche Übersetzung des Filmtitels, schaut bereits mit einer gewissen Verklärung zurück auf die Zeit, da man nicht von Termin zu Termin hetzte, sondern einfach zu Hause blieb und wartete. Man hatte plötzlich Zeit! Und diese ist bekanntlich der Boden jeglicher Poesie.
Die Szenerie: Der Filmregisseur Etienne (Vincent Macaigne) und sein Bruder, der Musikjournalist Paul (Micha Lescot), beide Mitte 40, kehren in ihr Elternhaus auf dem Lande zurück, um hier gemeinsam den Lockdown zu überdauern. Man nennt diese Art Film »autofiktional«, denn beide Brüder sind die zwei Seiten des Regisseurs Olivier Assayas, der auch als Journalist arbeitet. In gewisser Weise ist das hier Gezeigte biografisch, aber im freien Sinne des Wortes, eben mit Ausflügen ins Fiktionale.
Gleich zu Beginn verbindet sich die Beschreibung von Haus und Garten mit jenen Erinnerungen, die beide Brüder als Kinder hatten. Fast alles sieht hier noch so aus wie vor Jahrzehnten, nur dass die Eltern inzwischen gestorben sind. Doch Etienne betritt das Zimmer der Mutter immer noch mit dem Gefühl, als sei sie anwesend. Und die prächtige Bibliothek des Vaters prägt immer noch die Atmosphäre des Hauses. Dennoch wird dieser Film nicht zu einer »Suche nach der verlorenen Zeit«, wie sie Marcel Proust unternahm, sondern die Gegenwart drängt sich vehement zwischen die Brüder. Kindheit verbindet zwar, aber dennoch, so müssen Etienne und Paul feststellen, trennt sie inzwischen vieles.
Die Frage etwa erhitzt sie, ob man in dieser Situation bei Amazon bestellen soll oder nicht, weil dies den Einzelhandel kaputtmache, wie Paul meint, und die Arbeitsbedingungen dort skandalös seien. Der Einzelhandel sei längst durch die Supermärkte zerstört worden, so Etienne, und hierher liefert sonst niemand. So gibt es ständig Meinungsverschiedenheiten, die in dieser Situation der zwangsweisen Wohngemeinschaft schnell Aggressionen wecken.
Beide Brüder sind offenbar auf ihre Weise erfolgreich geworden, jedenfalls müssen sie jetzt improvisieren, um im Gespräch über künftige Projekte zu bleiben. Auch ihre Lebensgefährtinnen sind bei ihnen, sie sind es noch nicht allzu lange, man kennt sich kaum. Essen kochen, so müssen sie feststellen, ist in gehobenen Kreisen eine komplizierte Angelegenheit geworden. Komplizierter als es die eigentliche Arbeit ist. Immerhin haben sie jetzt, was sie sonst nie haben: Zeit, die sie gemeinsam verbringen können – und müssen. Unter solch hochindividuellen Bedingungen aber ist man sich eigentlich nur immer ständig uneins. Dennoch, allein die Gegenwart des Bruders, in dem man das Kind sieht, das er einmal war, verändert sie beide. Ihre Beziehung ist, anders als vielleicht die zu ihren Lebensgefährtinnen, eben keine auf Zeit.
Das Virus ist als Drohung präsent, für Etienne mehr als für Paul, der sich darum wenig kümmert. Wann haben sich in ihrem Leben Weichen so und nicht anders gestellt? Plötzlich ist ein Mitwisser der eigenen Kindheit im Raum und das hat etwas zugleich Erhebendes und Bedrückendes. Das Erstaunliche gelingt diesem Film: Eine eigene Atmosphäre trägt ihn von Anfang bis Ende. Zwar halten sich die Brüder gegenseitig oft kaum aus, aber dennoch entsteht hier das, was man einen Raum aus Zeit nennen kann. Ein Modellfall auch für die sich auseinanderlebende Gesellschaft, die offensichtlich konfliktunfähig geworden ist?
Die beiden Brüder wissen, wie privilegiert sie sind mit Haus und großem Grundstück gerade jetzt. Aber das macht es für sie nicht einfacher, großzügiger mit den Schwächen des anderen umzugehen. Erstaunlicherweise wird für die beiden Männer (nicht ihre Frauen) die Küche zum Kampfplatz der eigenen starken Egos. Welcher Topf eignet sich wofür? Eine Kardinalfrage. Und wehe, wer sie leicht zu nehmen wagt.
»Hors du temps«, Frankreich 2024. Regie: Olivier Assayas. Mit Vincent Macaigne, Micha Lescot, Nine D’Urso, Nora Hamzawi. 105 Min. Termine: 25.2., 20.30 Uhr, Haus der Berliner Festspiele.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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